entwickeln, antizipieren, entsprechen. Kunden haben viele Kaufabsichten, sind aber mit den Optionen oftmals überfor- dert, da es immer mehr Produkte,

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Kundenwünsche Œ entwickeln, antizipieren, entsprechen Kunden haben viele Kaufabsichten, sind aber mit den Optionen oftmals überfor -dert, da es immer mehr Produkte, Services und Informationen gibt. Unternehmen erweitern ihre Sortimente, werben, bauen die Präsenz im Internet aus oder ver -kaufen härter. Die Herausforderung besteht darin, den Kunden zu verstehen und mit den Wünschen richtig umzugehen. Alexander Linder 20Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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Unternehmen, welche einem Kundenwunsch entsprechen, untersuchen, was der Kunde will und erfüllen die Wünsche mit den entsprechenden Produk – ten und/oder Dienstleistungen (z um Beispiel Anpassung der Zahlungsmög – lichkeiten in einem Online-Shop). Unternehmen, welche Kundenwünsche antizipieren, versuchen zu verstehen, was der Kunde sich morgen wünschen wird und entwickeln entsprechende Produkte und/oder Dienstleistungen. Hier geht es um die —Vorhersagefi von zukünftigen Kundenbedürfnissen, s o genannte latente Bedürfnisse, also solche , die heute nur unspezifisch und unbewusst vorhanden sind (z um Beispiel die Weiterentwicklung der ge – wöhnlichen Mobiltelefone zu Smartphones). Unternehmen, welche Kunden -wünsche entwickeln, gehen noch einen Schritt weiter . Sie kreieren Kunden -wünsche und schaffen neue Bedürfnisse (zum Beispiel die Entwicklung von Kompressionsbekleidung im Sportbereich, welche einer Übersäuerung der Muskulatur vorbeugen soll). In diesem Beitrag wird bei der Behandlung von Kundenwünschen der Konsumgüterfokus eingenommen. Es wurden telefonische Interviews an – hand eines strukturierten Leitfadens geführt, die zwischen 20 und 30 Minu -ten dauerten. Dabei wurde bei der Zusammensetzung bewusst ein breiter Ansatz gewählt, d as heißt, Vertreter der Instituts- Marktforschung, der Stra -tegieberatung, der universitären Lehre, der Konsumgüterbranche und der Dienstleistungsbranche wurden befragt. Der Kunde hat sich gewandelt Noch vor ein paar Jahren d iktierten die Präferenzen des Kunden dessen Kaufverhalten. Um von A nach B zu kommen , nahm man entweder das Auto oder die Bahn. Bekleidung kaufte man entweder im Katalogversand oder man lie ß sich im Einzelhandel beraten. Das Umfeld, in dem sich der Kunde heute bewegt, ist durch eine außerordentlich hohe Komplexität und Dyna – mik gekennzeichnet , wie z um Beispiel die Digitalisierung und Technisie -rung verschiedener Lebensbereiche, die Vernetzung von Kommunikations- und Distributionskanälen oder das globale Zusammenwachsen einstmals getrennter Lebenswelten. Heute hat der Kunde die freie Auswahl aus einer stets steigenden Anzahl an Möglichkeiten, welche über mehrere Kanäle, die mehr und mehr verschmelzen, oftmals zur gleichen Zeit abrufbar sind. Pe – ter Gross sprach in diesem Zusammenhang bereits 1994 von der —Multiop – tionsgesellschaftfi (Gross 1994). Seine These ist heute aktueller denn je. Das —Entweder- oderfi ist dem —Sowohl-als-auchfi gewichen. Schon lange folgt das Verhalten nicht mehr einer linearen Struktur, sondern der Kunde wechselt und versteht es gezielt, die verschiedenen Angebote situations- und kon – textspezifisch abzurufen und miteinander zu vergleichen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Hybridkunden, also einem Kunden mit wechselhaftem, den Einzelfall optimierendem Nachfrageverhalten . Der Hy -bridkunde ist nicht einseitig leistungs-, preis- oder serviceorientiert (Wag – ner 2014). Seine Treue zu Marken, Händlern oder Standorten nimmt ab. Sein Verhalten wird unberechenbar, er wird immer anspruchsvoller und hat sehr oft einen Plan B. Alexander Linder Swarovski, Männedorf, Schweiz E-Mail: alexander.linder@swarovski.com Dr. Alexander Linder ist Director Corporate Consumer and Market Insights, Swarovski. www.swarovski.com 21Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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Diese ganzen Veränderungen haben dazu geführt, dass Un -ternehmen heute mehr denn je den Wunsch haben, den Kun -den und seine Bedürfnisse so umfassend wie möglich zu ver -stehen. So erstaunt es nicht, dass sich im Bericht des Marke – ting Science Institutes (2014) die beiden Prioritäten —Understanding Customers and the Customer Experiencefi so – wie —Developing Marketing Analytics for a Data-Rich Envi -ronmentfi zuoberst wiederfinden. Auch andere Schlagworte in diesem Zusammenhang, wie z um Beispiel Customer Cen – tricity, Customer Co-Creation, Customer Touchpoint Analy -sis & Understanding oder Big Data prägen die heutige Mar -keting-Managementlandschaft. Kundenwünsche aus der Position des Unter -nehmens heraus Wie kommt nun ein Unternehmen an die Kundenwünsche heran? Welche Strategie Œ entsprechen, antizipieren, entwi – ckeln Œ soll und kann es verfolgen? Hier spielt sicherlich sei – ne Positionierung eine Rolle. Ein Monopolist kann sich eher damit zufriedengeben, den Kundenwünschen zu entsprechen, während ein Unternehmen im vollständigen Wettbewerb ei – nen grö ßeren Druck hat und sich eher Richtung antizipieren oder entwickeln bewegen muss, um wettbewerbsfähig zu blei – ben. Dr. Markus Zinnbauer, Partner der Strategieberatung von Vivaldi Partners, vertritt die Sichtweise, dass die Wettbe – werbsstrategie eines Unternehmens ausschlaggebend ist, wie es mit Kundenwünschen umgehen soll (Zinnbauer 2014). So müsse ein Innovationstreiber im Markt fähig sein, Kunden – wünsche zu entwickeln b eziehungsweise diese zumindest zu antizipieren wie z um Beispiel Apple. Der klassische Follower hingegen kann sicherlich auch mit einem eventuell eher über -raschenden Entsprechen der Kundenerwartungen/-bedürf – nisse sehr erfolgreich sein, so Zinnbauer. Als Beispiel fügt er hier Hyundai KIA an. Er setzt allerdings ein umfassendes Kundenverständnis voraus, welches heute ma ßgeblich durch die digitale Transformation beeinflusst wird. Auch für Stefan Spangenberg, Head of Brand Strategy & In -sights bei Vodafone, spielt die Position des Unternehmens eine Rolle (Spangenberg 2014). So hätten insbesondere Start- up-Unternehmen die Möglichkeit, Kundenwünsche zu ent -wickeln, da sie oft schon mit solchen Ideen als Basis starten und weil sie sich fokussieren. Bedürfnisse entwickeln korre – liert für Spangenberg sehr stark mit dem Innovationsgrad ei – nes Unternehmens und stellt für ihn die letzte Phase eines in – novativen Unternehmens dar. Wie innovativ ein Unterneh -men sein kann, hängt für ihn sehr stark von den Rahmenbedingungen ab, d as heißt vom wirtschaftliche n Druc k, unter dem ein Unternehmen steht , und wie stark es am Markt bereits gefestigt ist. Das Unternehmen orientiert sich somit nicht nur am kurzfristigen Shareholder Value. Als Beispiel für ein innovatives Unternehmen nennt er Google X (2014) mit Projekten wie z um Beispiel Google Glass, einer di – gitale n Kontaktlinse zur Messung des Blutzuckerwertes, die Entwicklung sich selbst steuernder Fahrzeuge, das —Project Loonfi (Internetdienste über Ballone in der Stratosphäre) oder das Internet der Dinge (Web 3.0). Auch für Dr. Joerg Niessing, Affiliate Professor of Marke -ting an der INSEAD, stehen zwei Unternehmensbetrachtun – gen für die Frage entsprechen Œ entwickeln Œ antizipieren im Vordergrund: Wie das Unternehmen am Markt positioniert ist und in welcher Marktform es operiert (Niessing 2014). Für Dr. Anne-Kathrin Hegner-Kakar, Account Director Fashion & Lifestyle bei GfK Consumer Experiences, ist die Kundenwünsche am Beispiel Nassrasierer (Ricci 2014) Auf welche Art und Weise Kundenwünsche artikuliert werden können, soll am Beispiel der Entwicklung der Nassrasierer dargestellt werden. Gillette (P&G) und Wilkinson (Energizer Holding) dominieren seit Jah – ren den Markt für die Nassrasur der Männer, in den USA spielt Schick (Energizer Holdings) noch eine wei – tere Rolle. Als die Nassrasierer mit drei Klingen auf dem Markt erhältlich waren, hat sich Gillette bereits gedanklich mit vier Klingen auseinandergesetzt. Es folgte eine breit angelegte, internationale , quantitative Umfrage unter Tausenden von männlichen Kunden . Das Ergebnis war ernüchternd: Ablehnung, denn es wurde kein Mehrwert erkannt. Wilkinson ergriff die Initiative und hat den ersten Vier -Klingen-Systemra -sierer auf den Markt gebracht, welcher rei ßenden Ab – satz fand. Kunden wanderten von Gillette zu Wilkin – son, und Gillette musste sich die verlorenen Marktan – teile in den folgenden Jahren wieder hart zurückerkämpfen. Hat in diesem Beispiel nun die an – gewandte Marktforschungsmethode versagt oder sind Kunden vielleicht gar nicht in der Lage zu artikulieren, was sie sich morgen wünschen? 22Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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Marktdynamik entscheidend und wie schnell man auf Verän -derungen reagieren muss. So verändern sich beispielsweise Trends und Moden im Bereich Kosmetik wesentlich schnel -ler als im Finanzsektor, d as heißt, Innovationen sind im Kos -metiksektor häufiger und stärker ausgeprägt. Aber auch die Zielgruppe ist entscheidend: B -to- B-Märkte verändern sich meist langsamer als Verbraucher-Märkte (Hegner-Kakar 2014).Zusammenfassend lassen sich somit vier Faktoren nennen, welche aus Sicht des Unternehmens einen Einfluss haben auf die Entscheidungsfindung, welche Strategie, entsprechen Œ antizipieren Œ entwickeln, im Vordergrund steht: Marktform , das heißt die Intensität des Wettbewerbs. Sie reicht von Monopol bis zur vollständigen Konkurrenz. Marktdynamik , das heißt die Geschwindigkeit, mit der sich Märkte verändern und weiterentwickeln. Wettbewerbsstrategie , das heißt, ob ein Unternehmen sich als Kostenführer oder als Qualitätsführer am Markt positi -oniert. Innovationsgrad , der abhängig ist vom Wettbewerbsdruck, dem ein Unternehmen ausgesetzt ist und von der Festigung des Unternehmens in seinem Lebenszyklus. Bis anhin ist der Kunde mit seinen Wünschen noch nicht in diese Überlegungen mit eingeflossen. Er steht auf der Nachfragerseite und soll im nächsten Abschnitt näher be – leuchtet werden. Kundenwünsche und der Kunde Unabhängig davon, ob sich ein Unternehmen dafür entschei – det, den Kundenwünschen zu entsprechen, diese zu entwi – ckeln oder gar zu antizipieren oder diesen lediglich zu ent -sprechen, eines ist den drei Ansätzen gemeinsam: Sie orien – tieren sich am Kunden. Doch ist ein Kunde überhaupt in der Lage, seine Wünsche so zu artikulieren und darzulegen, dass sie einem Unternehmen klar sind und es somit (re)agieren kann? Und wie gehen Unternehmen heute mit diesen drei An – sätzen um? Henry Ford (186 3-1947) sagte einst: —If I had asked my cus -tomers, what they wanted, they would have said faster hor -ses .fi Damit postulierte Ford, dass es keinen Sinn macht, mit dem Kunden in den Dialog zu treten bezüglich seiner Wün – sche, denn er kann diese sowieso nicht artikulieren und ist im Hier und Jetzt verfangen. Zu begrenzt ist sein Vorstellungs -vermögen. Ein Affront, insbesondere der Marktforschung ge – genüber. Nehmen wir einmal an, Fords Kunden hätten wirk – lich in ihren Äu ßerungen dem oben genannten Zitat entspro -chen. Ist es dann wirklich so inhaltslos? Nein. Bei näherem Hinsehen und durch Einbindung von Kontextinformationen lässt sich herauslesen, dass Fords Kunden damit den Wunsch äußerten, dass sie eine bestimmte Wegstrecke in kürzerer Zeit zurücklegen wollen. Da es das Automobil zu dieser Zeit aber schon gab, hat Ford mit seinem T-Model einem Kundenbe -dürfnis entsprochen , b eziehungsweise dieses antizipiert und über die Flie ßbandproduktion dafür gesorgt, dass es einem möglichst breiten Kreis zur Verfügung steht. Stefan Baumann, Managing Partner von Sturm und Drang , argumentiert beim Thema entsprechen Œ antizipieren Œ ent – wickeln mit einer logischen, fundierten Argumentationsket – te: Der Kunde denkt nicht, was er fühlt, er sagt nicht, was er denkt, und sein Handeln reflektiert nicht das, was er sagt (Baumann 2012). Der Konsument ist irrational und damit in seiner Artikulation seiner Wünsche nur bedingt ernst zu neh – men, so Baumann weiter. Der Homo emoticus, ein Individu -um, das irrational entscheidet und stark von seinen Gefühlen Zusammenfassung Bevor sich ein Unternehmen mit den Kundenwünschen auseinandersetzen kann , braucht es zunächst einmal ein umfassendes Kundenverständnis. Der richtige Mix an qualitativen und quantitativen Marktforschungsmetho – den, ergänzt mit angrenzenden Analyseverfahren wie zum Beispiel Trendforschung und Data Mining, leistet hier einen essen ziellen Beitrag. Die Entwicklung von Kundenbedürfnissen ist als Königsdisziplin zu sehen und erfordert ein komplexes Instrumentarium, welches über die bisherigen, vielfältigen Methoden der klassi – schen Marktforschung hinausgeht. Die Experten sind sich einig, dass heute die Antizipation und das Entspre – chen die am weitesten verbreite ten Ansätze sind im Umgang mit Kundenwünschen. —Der Konsument ist irrational und damit in seiner Artikulation seiner Wünsche nur bedingt ernst zu nehmen .fi23Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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gelenkt wird, lebt und ersetzt den lange propagierten Typus des stets rational entscheidenden, nutzenmaximierenden Homo oeconomicus. Oder wie es der Neurowissenschaftler António Damásio zum Ausdruck bringt: —We are not thinking machines that feel, we are feeling machines that thinkfi (Da – masio, 2010). Diese Überlegungen sind umso wichtiger, da wir uns vielfach in gesättigten Märkten bewegen und somit auf der Ebene der emotionalen und sozialen Sehnsüchte an – gelangt sind. Umso wichtiger sei es daher, den Kunden lesen zu lernen, seinen Kontext zu verstehen und mit ihm zu kolla -borieren, denn erst in seinem Verhalten äu ßern sich seine ei -gentlichen Wünsche, so Baumann (Baumann 2014). Unter -nehmen müssen sich mehr und mehr mit Emotionen ausei -nandersetzen, denn Differenzierung durch das blo ße Produkt ist heute fast unmöglich geworden. Hilti positioniert sich nicht durch den Verkauf von Schlagbohrmaschinen, es ver -kauft vielmehr Löcher in der Wand, und damit : den emotio -nalen Benefit, dass der Kunde etwas selber von Hand geschaf -fen hat, das ihm hilft, sein Wohnumfeld durch eine Lampe oder ein Bild zu verschönern. Oder wie Jeffrey Moran, Vice President of Public Relations, Events & Lifestyle Marketing bei Pernod Ricard, gesagt hat: —Today, you date a brand. You decide, as a consumer, if you want to go on a second date. fiIn die gleiche Richtung argumentiert Tom Ewing, Director Brainjuicer Labs der Firma Brainjuicer. Er sagt, dass Indivi -duen nur ganz selten nach bewussten, geplanten Wünschen handeln, sie handeln mehr aus einem Moment, aus einer Ge -wohnheit heraus oder abgestützt auf emotionale, soziale und sie umgebende, allgemeine Stimuli. Dies trifft insbesonders zu, wenn es um die Auswahl von Marken geht. Ewing schluss -folgert da raus , dass das Marketing dieses Verhalten genau in diesem Moment beeinflussen sollte , indem es eine Umgebung schafft, welche den Kunden glücklich macht und ihm das Ge -fühl gibt, das Richtige zu tun (Ewing 2014). Dr. Reinhold Rapp, Inhaber der Open House of Innovation GmbH , vertritt die Ansicht, dass neue Bedürfnisse kaum ent -wickelt werden können und es eher neue Lösungen gibt für alte Bedürfnisse. Für ihn ist das Kundenverständnis zentral, denn nur dann kann man Bedürfnissen entsprechen. Nur wer die Zukunft versteht, und das tut eigentlich niemand, kann antizipieren. Nur wer wirklich viel Erfahrung hat, kann ent -wickeln, aber nur mit dem Kunden zusammen. Ein klares Plä -doyer also beim Entsprechen anzusetzen durch ein umfassen -des Kundenverständnis (Rapp 2014). Für Astrid Bräuer vom Marktforschungsinstitut P syma liegt die Herausforderung darin, primär den Kunden und seine Be -dürfnisse zu verstehen, wenn man den Wünschen entspre – chen will. Ihrer Erfahrung nach scheitern hier schon viele Un – ternehmen, weil diese nicht mal ihre Zielgruppen differen – ziert kennen und oftmals auch nicht die damit verbundenen, lokalen Unterschiede. Für Bräuer gibt es durchaus Beispiele, die zeigen, dass Produkte an den Kundenbedürfnissen vorbei entwickelt wurden, wie z um Beispiel New Coke, HD DVD, McDonald™s Arch Deluxe oder die Hybridtechnologie im Be – reich der Sportwagen. Für Bräuer bauen die Konzepte aufei – nander auf: Nur wer seinen Kunden umfassend versteht, kann seinen Bedürfnissen entsprechen. Wer das kann, kann sich auf das Antizipieren von Kundenwünschen fokussieren. Und nur wer auch das Antizipieren beherrscht, kann sich mit dem Entwickeln auseinandersetzen (Bräuer 2014). Dr. Anne-Kathrin Hegner-Kakar (GfK) beobachtet, dass die meisten Unternehmen den Fokus auf das Antizipieren von Kundenbedürfnissen legen, denn dies sei schlichtweg am er -folgversprechendsten. Nur selten entspräche ein Unterneh – men mit einem neuen Produkt lediglich den Bedürfnissen sei -ner Kunden. Kundenbedürfnisse zu entwickeln , ist sicherlich die Königsdisziplin, so Hegner-Kakar weiter, es kommt aber vergleichsweise selten vor: Innovationen müssen sehr unge -wöhnlich und bahnbrechend sein, dem Kunden dabei aber auch klar erkennbare Vorteile bieten. Die Entwickler brau -chen das richtige Gespür für die Trends der Zukunft, und Un -ternehmen begeben sich dabei naturgemäß auf unsicheres Terrain. Schließlich gilt es, Bedürfnisse zu befriedigen, die es noch gar nicht gibt, derer sich der Kunde in der Regel nicht bewusst ist und die er somit auch nicht artikulieren kann. Die Universität St.Gallen hat sich am Rahmen von Custo -mer Centricity mit Kundenbedürfnissen beschäftigt. Interes – sant dabei ist, dass die höchste Ausprägung von Customer Centricity, Customer Driving, unter anderem damit um-schrieben wird, dass zukünftige Bedürfnisse der Kunden gut eingeschätzt werden können. Dies entspricht wohl am ehes -ten dem Antizipieren. Von Kundenbedürfnissen entwickeln wird in diesem Zusammenhang nicht gesprochen (Herhau -sen 2012, S.19). —Um zu einem umfassenden Kunden -verständnis zu gelangen, braucht es den richtigen Mix an qualitativen und quantitativen Marktforschungsmethoden.fi 24Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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An dieser Stelle sei gesagt, dass für die Entwicklung von Kundenbedürfnissen ein komplexes Instrumentarium not -wendig ist, welches über die bisherigen, vielfältigen Metho – den der klassischen Marktforschung hinausgeht. Innovative, kreative Köpfe , wie z um Beispiel erfinderische Produktent -wickler und Trendforscher mit dem nötigen Weitblick, die sich frei machen können von allen beengenden Ressentiments sowie allgemeinen Marktrestriktionen, die aber gleichzeitig den Blick für die wesentlichen Grundbedürfnisse der Men – schen nicht verlieren, sind notwendig, wenn es darum geht, Produkte zu schaffen, die dann wiederum in der Lage sind, ein neues Kundenbedürfnis entstehen zu lassen. Und eine Verbalisierung des —Übermorgen sfi durch einen Endverbrau -cher ist Wunschdenken Œ kaum ein Kunde hätte wohl freudig genickt, wenn man ihn vor 30 Jahren gefragt hätte, ob er nicht auch k urze Nachrichten mit seinem Telefon verschicken möchte. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ein umfassen -des Kundenverständnis die Voraussetzung ist, bevor man sich mit der Frage auseinandersetzt, wie man mit Kundenwün -schen umgehen möchte. Hat man dieses Kundenverständnis einmal erlangt, so scheinen das Entsprechen b eziehungswei -se Antizipieren die am weitesten verbreiteten Ansätze zu sein. Im nächsten Abschnitt soll nun dargelegt werden, welchen Beitrag die Marktforschung zum Kundenverständnis leisten kann , wenn es um das Antizipieren b eziehungsweise das Ent-sprechen geht. Die Rolle der Marktforschung im Kundenverständnis und im Umgang mit Kundenwünschen Die Kritik an der Marktforschung als Disziplin zum Verständ -nis des Kunden ist gerade in letzter Zeit immer lauter gewor -den. Aussagen von Kunden aus Befragungen seien trügerisch und verfälscht, denn sie wollen nicht lügen und die gedank – lichen, oft sozial erwünschten Antwortmuster hätten oft we – nig mit dem realen Verhalten zu tun. Auch wird gesagt, dass sich die Kunden über die Gründe, die sie vermeintlich bewe – gen, intellektuell b eziehungsweise post-rational äu ßern (Rutschmann 2014). Diese Kritik bezieht sich primär auf quantitative Befragungen. Die Marktforschung hat aber vom Methodenspektrum her weit mehr zu bieten . Richtig ange -wandt, mit den entsprechenden Fragestellungen verknüpft und gegebenenfalls noch mit angrenzenden Disziplinen an -Quelle: IFM-HFG Typische MerkmaleZukünftige Bedürfnisse der Kunden können gut eingeschätzt werden.Die Probleme der Kunden werden gelöst Œ auch in Kooperation mit anderen Unternehmen.Alle Mitarbeitenden haben Customer Centricity verinnerlicht.Typische MerkmaleAktuelle Bedürfnisse der Kunden können gut eingeschätzt werden.Kunden werden ganzheitliche Leistungssysteme angeboten.Alle Mitarbeitenden in Vertrieb und Marketing richten sich nach den Bedürfnissen der Kunden.Typische MerkmaleKunden werden in verschiedene Segmente eingeteilt.Kunden werden bedürfnisgerechte Produkte oder Services angeboten.Die Bedürfnisse der Kunden stehen im Mittelpunkt der Unternehmens-strategie.Typische MerkmaleEs ist nur wenig Wissen über die Bedürfnisse der Kunden vorhanden.Kunden werden einheitliche Produkte oder Services angeboten.Die eigenen Angebote stehen imMittelpunkt der Unternehmensstrategie.Stufe 3:Customer DrivingStufe 2:LösungsorientierungStufe 1:SegmentorientierungStufe 0:AngebotsorientierungAbb. 1 Stufen der Customer Centricity, Herhausen 2012, S. 19 25Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Um zu einem umfas -senden Kundenverständnis zu gelangen und um sich dann mit den Kundenwünschen auseinanderzusetzen im Sinne von fientsprechen fi, beziehungsweise —antizipieren fi, braucht es den richtigen Mix an qualitativen und quantitativen Marktfor -schungsmethoden, ergänzt mit angrenzenden Analyseverfah -ren. Qualitative Marktforschung: Hier geht es primär um das Verständnis von —WIEfi und —WARUMfi sich Individuen in einer gewissen Art und Weise verhalten. Exemplarisch sei -en genannt: Ethnografie, Tagebücher, Fokusgruppen, Be – obachtung , aber auch die Social -Media -Forschung. Insbe -sondere Letztere stößt dabei auf ein immer größeres Inter -esse. Der große Vorteil ist darin zu sehen, dass Kunden un – gefragt und oftmals unverzerrt ihre Meinung kundtun. Kundeneinbindung: Im Zusammenhang mit Kundenein -bindung spricht man auch oft vom Lead-User-Ansatz . Ex-perten wie z um Beispiel Designer, Produktentwickler e t cetera werden mit Lead-Usern zusammengebracht, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Die enge Zusammen – arbeit führt in der Regel zu fruchtbaren Diskussionen und Entwicklungen. Dieser Ansatz ist jedoch sehr anspruchs – voll, denn die Auswahl der Lead User ist entscheidend, da nicht alle Verbraucher in der Lage sind, über den eigenen Tellerrand zu schauen und die nötige Fantasie aufzubrin – gen, Veränderungen in den eigenen Bedürfnissen zu erken – nen und diese zudem noch so zu artikulieren, dass daraus eine Produktidee entsteht. Deutlich besser gelingt es Kun – den zu schildern, was man nicht möchte. Hieraus den Um -kehrschluss zu ziehen und das Bedürfnis zu erkennen , ist die Kunst. Auch zu berücksichtigen ist, dass der Endver -braucher i n der Regel mit einer realen Produktidee besser umgehen kann , als seine Bedürfnisse losgelöst zu beschrei – ben. So gelingt es auf diesem Wege durchaus, auf bisher noch nicht geweckte, aber zukünftig zu erwartende Kun – denbedürfnisse zu sto ßen. Im Rahmen der Kundeneinbin -dung setzt Vodafone z um Beispiel auf Dialog und Custo – mer Experience und hat klar definierte Governance -Pro -zesse . K ein Produkt, welches nicht durch die Governance -Prozesse gegangen ist, kommt auf den Markt. Es wurde ein Kundenboard etabliert, welches aus 3 .500 Kunden besteht und Produkte kritisch beleuchtet und be – wertet durch eine Kombination von qualitativen und quan – titativen Marktforschungsmethoden (Spangenberg 2014). Die quantitative Marktforschung leistet vor allem dann ei -nen wertvollen Beitrag, wenn es um die Beantwortung des —WASfi geht. Sie ist sehr hilfreich bei der Verifizierung/Fal -sifizierung von entdeckten Mustern, welche der qualitati -ven Marktforschung entspringen. Die Kritik an der quanti -tativen Marktforschung, welche diese heute erfährt, ge-schieht oftmals zu Unrecht. Nicht selten wird versucht, sie zur —eierlegenden Wollmilchsau fi zu machen, primär getrie -ben durch das Argument der Zeit- und Kostenersparnis. Genau dann werden auch Fragen zum —WARUMfi und —WIEfi eingebaut, welche vom Kunden entweder nicht oder nur falsch beantwortet werden können. Neben den hier genannten, klassischen Verfahren der Marktforschung ist es empfehlenswert, weitere Bereiche zu betrachten, wenn man zu einer umfassenden Erkenntnis ge – langen möchte. Die Trendforschung setzt geschulte, sorgfältig ausgewählte Trendscouts ein, Neues mit Bild und Ton aufzuspüren. Sie gehen dabei in angesagte Shopping Malls, In-Lokale einer bestimmten Szene und zu anderen Treffpunkten und be – obachten, fragen und dokumentieren. Auch das Internet spielt eine immer grö ßere Rolle, man spricht hier von On -line Scouting. Gerade für Modeunternehmen sind Trends von ganz gro ßer Bedeutung. Allerdings ist hier auch Vor -sicht geboten, denn ein Trend , der sich gerade zeigt , ist möglicherweise morgen schon wieder am Abklingen. Datenanalyse: Früher bekannt als Data Mining b eziehungs -weise analytisches CRM, heute viel mehr unter dem Stich -wort Big Data, liefert diese Disziplin wertvolle Hinweise , Kernthesen Die Strategie, wie mit Kundenwünschen umgegan -gen werden soll , ist abhängig von der Marktform und der Marktdynamik sowie der Wettbewerbsstrategie und dem Innovationsgrad eines Unternehmens. Voraussetzung für die Handhabung von Kunden -wünschen ist das Vorhandensein eines umfassenden Kundenverständnisses (WER ist der Kunde). Ein Unternehmen muss sicherstellen, dass durch eine geeignete Kombination von qualitativen und quan – titativen Marktforschungsmethoden sowie Erkenntnis – sen aus weiteren Disziplinen ein holistisches Bild ge – zeichnet werden kann, wie mit Kundenwünschen um – gegangen werden soll. 27Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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—WASfi Kunden tun b eziehungsweise getan haben. So las -sen sich z um Beispiel Muster in Transaktionen der Kunden ablesen und Kunden selektieren, bei welchen die Chance auf Erfolg überdurchschnittlich hoch ist. Predictive Ana – lytics, eine gesonderte Ausprägung von Data Mining, kann einen Ausblick in die Zukunft geben. Hier sei der amerika – nische Retailer Target genannt, der auf Basis von umfassen – den Verkaufs- und Kundendaten einen Algorithmus entwi – ckelte, welcher mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, wann eine Kundin schwanger ist , und das oftmals , bevor es die Kundin selber wei ß (Duhigg 2012). Market Insights: Der Kunde ist bei der Beurteilung von Kundenwünschen sicherlich der wichtigste Einflussfaktor. Daneben ist es aber für ein Unternehmen auch immer von zentraler Bedeutung, sich den zugrunde liegenden Markt zu verdeutlichen, speziell dann, wenn es um einen anderen Markt als den angestammten geht. So mag es zwar sein, dass kundenseitig viel Zuspruch zu einem Konzept erfolgt und dessen Mehrwert auch gesehen wird, gerade weil es derzeit so hoch im Kurs liegt. Eine Sicht auf den Markt kommt aber möglicherweise zum Schluss, dass sich der Markt bereits in einer Sättigungsphase befindet mit einer hohen Tendenz zur Degeneration. Das rückt die Entscheidung eines Unter -nehmens hinsichtlich des Umgangs mit einem Kundenbe – dürfnis in ein ganz anderes Licht. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die Frage, ob ein Unternehmen Kundenwünsche entwickeln oder antizipie -ren soll b eziehungsweise ob es diesen lediglich entsprechen soll, nicht pauschal beantwortet werden kann. Verschiedene Aspekte sind hierbei zu berücksichtigen: 1. Umfassende Analyse von Marktform, Marktdynamik, Wettbewerbsstrategie und Innovationsgrad. 2. Voraussetzung für die Handhabung von Kundenwünschen ist das Vorhandensein eines umfassenden Kundenver -ständnisses ( —WERfi ist der Kunde). 3. Sicherstellen, dass durch eine geeignete Kombination von qualitativen und quantitativen Marktforschungsmethoden sowie Erkenntnissen aus weiteren Disziplinen ein holisti – sches Bild gezeichnet werden kann, wie mit Kundenwün – schen umgegangen werden soll. Literatur Baumann, S. (2012): Agiles Trendmanagement, in: FOCUS-Jahrbuch 2012 Prognosen, Trend- und Zukunftsforschung, München, S. 453-477.Baumann, S. (2014): Interview mit Stefan Baumann, in: Absatzwirt – schaft, Zeitschrift für Marketing, Ausgabe 6/2014, 55. Jahrgang, S. 6.Bräuer, A. (2014): Telefonisches Interviews, 14.10.2014 .Damasio, A. (2010): Dr. Antonio Damasio on Self Comes to Mind – Number Six in a Series: What role do emotions play in conscious -ness, http://www.youtube.com/watch?v=Aw2yaozi0Gg, Abruf 25.10.2014.Duhigg, C. (2012): How Companies learn your secrets, http://www.nytimes.com/2012/02/19/magazine/shopping-habits. html?pagewanted=2&_r=0, Abruf 26.10.2014 .Earls. M. (2013): Behavioral Economics Special: Resetting, reboo -ting, reinventing market research, in: Research World, Issue 43, S. 15-27.Ewing, T. (2014): Telefonisches Interview, 09.10.2014 .Google (2014): https://www.solveforx.com/, Abruf 25.10.2014 .Gross, P. (1994): Die Multioptionsgesellschaft, 3. Aufl age, Frankfurt am Main . Hegner-Kakar, A.K. (2014): Telefonisches Interview, 24.10.2014 .Herhausen, D. (2012): Studienergebnisse: Realisierung von Custo -mer Centricity, Vortrag anlässlich der Suisse EMEX, 21.08.2012 .Kahneman, D. (2011): Schnelles Denken, Langsames Denken, 9. Aufl age, München .Krech, D./Crutchfield, R. S./Ballachey, E. L. (1962): Individual in so -ciety, Tokyo u. a. , S. 77.Marketing Science Institute (2014): 201 4-2016 Research Priorities, www.msi.org .Niessing, J. (2014): Telefonisches Interview, 23.10.2014 .Rapp, R. (2014): Telefonisches Interview, 09.10.2014 .Ricci, J. (2014): Persönliches Interview, 13.09.2014 .Rutschmann, M.(2014): Reales Marketing Œ Kunden zum Kauf füh -ren: Kaufprozess, Kaufhandlung, Erfolg, 1. Aufl age, Stuttgart .Spangenberg, S. (2014): Telefonisches Interview, 14.10.2014 .Wagner, F. (2014): Gabler Versicherungslexikon, http://www.versi -cherungsmagazin.de/Definition/33418/hybrider-kunde.html, Abruf 25.10.2014.Wood, O. (2010): Using an emotional model to improve the measure -ment of advertising effectiveness, Research 2010 Conference Paper .Zinnbauer, M. (2014): Telefonisches Interview, 30.09.2014 .ADownload des Beitrags www.springerprofessional.de/mrsg 28Marketing Review St. Gallen 2 | 2015Schwerpunkt | Marketingentscheidungen managen

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