by P Schaper-Rinkel · 2015 · Cited by 1 — Die Antizipation von Zukunft im politischen Raum ist durch eine systematische Spannung Eine Auswahl dieser Variationen, Zukunft zu ,

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363 Petra Schaper -Rinkel Antizipation von Zukunft zwischen Verwissenschaftlichun g und Storytelling In der Antizipation von gesellschaftlicher Zukunft ist die Generierung von politis chem Zu- kunftswissen eng mit erz−hlerischen Verfahren vet. Zukunftskonstruktionen ln wissenschaftliches Wissen aus unterschiedlichen Wissensfeldern und verwe isen auf die Rele- vanz von heutigem Wissen fdie Zukunft. Ergebnisse wissenschaftlicher Unte rsuchungen, die gerade unter der Annahme spezifischer Rahmenbedingungen entwickelt wurden, werden in den breiten Kontext einer ztigen Gegenwart gestellt. Diese Form der ƒ bertragung und der Einbettung heutiger wissenschaftlicher Fakten in Geschichten ihrer zt igen kau- salen Wirkungsweise macht das spezifisch Narrative der Antizipation von Z ukunft aus. 1 Die Kontroversen um den Klimawandel zeigen diese Verbindung deutlich: Es geht um das Leben in der Zukunft und um die politischen Strategien, damit umzugehen. Die Antizipation von Zukunft im politischen Raum ist durch eine systematis che Spannung gekennzeichnet: durch Verwissenschaftlichung (Nutzung wissenschaftlichen Wiss ens und Systematisierung von Prozessen der Antizipation) und durch die Einbettung dieses Wi ssens in Erz−hlungen mit einer hypothetischen Dynamik (im Sinne von Storytelling). 2 Diese Spannung wird noch dadurch verst−rkt, dass in der Antizipation von Zukunft politische Rationalit −ten doppelt einbezogen sind: Politische Rationalit−ten bestimmen einerseits die Erz−hlung von einer spezifischen Zukunft und andererseits ist die Ver−nderung oder Stabilisie rung von poli- tischen Rationalit−ten zugleich das implizite oder auch explizite Ziel von Zukunftskonstruk- tionen, seien es Horrorszenarien oder normativ positiv dargestellte Zukunftsvisionen. 3 Eine Auswahl dieser Variationen, Zukunft zu antizipieren, wird im Folgenden darge stellt. Die Utopien der fn Neuzeit bilden dabei den Ausgangspunkt unserer Untersuchung, denn 1 Sprechen wir von der Zukunft, so handelt es sich um ein Gedankenexperiment, in dem ein Aus schnitt des Status quo in eine gedachte zuknftige Gegenwart pro jiziert wird (Grunwald 2009). Dabei ist die Mediali t−t der Modelle und Prognosen selbst (vgl. Gramelsberger 2010) z entral in der Antizipation von Zukunft, und in ihr zeigt sich zugleich die Zeitgebundenheit des Zukunftswissens (vgl. Hartm ann 2010). 2 Der Begriff des Storytelling wird im Folgenden synony m mit den Begriff der Erz−hlung verwendet. Story -telling betont sta rk das Element des Plots und der Dynamik, die eine Ge schichte vorantreibt und zu Konse -quenzen ft (Phillips 2012, Clark 1995). 3 Zum Beispiel entwickelt der Geowissenschaftler Lauren ce C. Smith in seinem Buch Die Welt im Jahr 2050 diverse Gedankenexperi mente, wie die Arktis im Jahr 2050 aussehen kınnte un d was dies fr die Menschen in der Region und die geopolitischen Machtverh−ltnisse hei§en k ınnte, und verl−sst somit das Feld der eige -nen Forschung, um aber Interesse f eben diese Forschung zu wecken (Smith, L.#C. 2011).

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PETRA SCHAPER -RINKEL 364 in ihnen wird wissenschaftliches Wissen erstmals genutzt, um Gesell schaften narrativ zu ent- werfen, die nach einer ganz anderen politischen Rationalit−t funktionieren als die Herkunfts- gesellschaften ihrer Autoren und als alle bekannten Gesellschaften zu ebe n jener Zeit. Politi- sche Utopien entwerfen alternative Gesellschaften auf normativ gewcht e politische Ratio- nalit−ten hin (siehe Kap.#1). Seit dem 19. Jahrhundert wird eine Form der Antizipat ion von Zukunft prominent, die Zukunft als Extrapolation der Gegenwart erz−hlt. Dabei werde n spezi- fische wissenschaftliche und technologische Entwicklungen zum Ausgangspunkt fum fas- sende Erz−hlungen ztiger Gesellschaften (siehe Kap.#2). In der zweiten H−lf te des 20. Jahrhunderts ver−ndert sich die Antizipation von Zukunft im politischen Raum: Sie wird von einer individuellen Praxis zu einer kollektiven Praxis und wird durch empirische Erhe bung von Erwartungen systematisiert (siehe Kap.#3); Zukunft wird zudem umfassend zu ei nem staatlichen Planungsobjekt (siehe Kap.#4). Im Kontext sozialer Bewegungen seit den 1960er Jahren wird die staatliche Antizipation der Zukunft aber auch zum Objekt der Kritik, der neue Verfahren entgegengestellt werden (siehe Kap.#5). Schlie§lich wurden in den letzt en Jahr- zehnten partizipativ generierte Zukunftsszenarien Teil von Governance-Instrumenten, soda ss die Antizipation der Zukunft selbst zu einem politischen Prozess wird (sie he Kap.#6). Die ausgew−hlten Varianten der Antizipation von Zukunft zeigen, dass im politische n Raum der wissensbasierte Entwurf von Zukunft eng mit normativen Erwartungen hinsichtlich de s Er- halts bestimmter politischer Rationalit−ten oder aber der Kritik an der herrs chenden poli- tischen Ordnung und ihrer entsprechenden Rationalit−t gekoppelt ist. 1. Zukunft als Entwurf alternativer politischer Rationalit−ten: Poli tische Utopien Vom Beginn der Fn Neuzeit bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts bilden politis che Utopien eine ma§gebliche Form, fundamental andersartige Gesellschaften al s Gegenentwurf zu etablierten Ordnungen darzustellen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden dies e ganz anderen Gesellschaften nicht mehr als staatliche Systeme auf ferne n Inseln dargestellt, son- dern als Gesellschaften der Zukunft. Der Begriff der Utopie ist alltagssprachlich ein Synonym fnormativ gewchte und f unrealistisch gehaltene Zukunftsvorstellungen. Politische Utopien reflektieren zeitgenıssische Herrschaftsverh−ltnisse sowie gleichzeitig das utopische Denken vor ihnen (Sa age 2000). Zu- dem zeigt die Geschichte des utopischen Denkens auf den zweiten Blick a ufschlussreiche Veungen erz−hlerischer Verfahren mit der Produktion wissenschaftlichen Wisse ns. So betten politische Utopien das wissenschaftliche Wissen ihrer Zeit i n den Kontext der erz−hlten

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ANTIZIPATION VON ZUKUNFT ZWISCHEN VERWI SSENSCHAFTLICHUNG UN D STORYTELLING 365 Gesellschaft ein. Thomas MorusÕ Utopia (1516) stellt das Staatswesen Utopias in Form eines geometrischen St−dtebaus und einer planm−§ig-identischen Anordnung der St−dte des ges am-ten Staates dar. Gleichheit wird als zentrale gesellschaftliche Leitvorstellung umgesetzt, in- dem alle St−dte und H−user gleich sind und in allen St−dten und H−usern dies elben Regeln gelten, die das Alltagsleben umfassend bestimmen. Gleichheit wird durch di e sozialen Tech- nologien (umfassende Regeln des sozialen Alltagslebens) und durch die architektonis che Technologie der immer gleichen Anordnung zugleich repr−sentiert und durchgesetzt. In Tommaso Campanellas Civitas Solis (1602) dient der ıffentliche Raum des beschriebenen Sonnenstaates der multimedialen Darstellung aller verfren Wissensbest−nde und dem praktischen Lernen all seiner Bewohner. Francis Bacons Nova Atlantis (1627) schildert auf Neu-Atlantis eine wissenschaftliche Akademie, die alle Disziplinen umfasst und Forschungs- prozesse von der Grundlagenforschung r die Entwicklung, Erprobung und Bewertung bis zum Einsatz von neuen Technologien arbeitsteilig organisiert. Die alternativen Rationalit−ten der utopischen Gesellschaften entwicke ln die Autoren in der Auseinandersetzung mit den Verh−ltnissen und Institutionen ihrer Zeit, die si e entschieden ablehnen (Saage 2000, S.#25). Der Kontext, in dem die Utopien entstehen, ist der Niede rgang des feudalistischen Wirtschaftssystems, der mit sozialer Polarisie rung und extremer Repres- sion einhergeht. So unterschiedlich die fn Utopien sind, so besteht ihre Gemei nsamkeit darin, den Paradoxien, Spannungen und der daraus resultierenden Irrationalit−t und Brutalit−t ihrer Zeit Narrationen einer rationalen politischen und sozialen Ordnung entgegenzuse tzen. Die jeweilige politische Ordnung selbst ist in den fn Utopien nicht al s Theorie dargestellt, sondern als fiktionaler Reisebericht, in dem Reisende von den fernen Gesellscha ften und ih- ren politischen Verfahren, Institutionen und Rechtsformen berichten. Diese sind stri kt darauf ausgerichtet, die Alltagspraxis aller entsprechend einer politischen Rational it−t zu regieren. Wie es zu dieser jeweils rationalen Ordnung gekommen war, musste nicht darge stellt werden, denn die Staaten, von denen berichtet wurde, waren fern und isoliert und mussten dahe r nicht aus der Transformation einer vorherigen, irrationalen Ordnung hervorgegangen sein. Im 18. Jahrhundert erfolgte der ÈEinbruch der Zukunft in die UtopieÇ (Koselleck 1985, S.#1), die den sozialen und geografischen Raum der eigenen Gegenwart als ztige G e- genwart erz−hlerisch antizipierte. Louis S”bastien Mercier beschrieb in s einem 1771 erschie- nenen Buch die Zeitreise eines Menschen aus dem Paris des Jahres 1769 in da s Paris von 2440. Das Paris der fernen Zukunft bleibt Merciers Gegenwart −hnlicher als die Gegen- entwe der fn Neuzeit, da sowohl die politische Rationalit−t der Monarchi e als auch die Technik in Form beispielsweise des Pferdewagens dieser Zukunft erhalten bl eiben (vgl. Mer-

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PETRA SCHAPER -RINKEL 366 cier 1771/1982). Jedoch haben sich in dieser Monarchie Vernunft und die Ideen der Aufkl−- rung umfassend durchgesetzt, sodass Paris im Jahr 2440 Ð im Gegensatz zu Merci ers Zeit Ð eine wohlgeordnete, saubere Stadt mit deutlich geringeren sozialen Gegens−tze n geworden ist. Was Mercier von der Gesellschaftskritik seiner Zeit unterscheidet , ist die Form: Er zeigt nicht, Èwie das kommende Paris sein soll, sondern wie es sein wird. Die Wchbarkeiten werden als Ist-Aussagen pr−sentiertÇ (Koselleck 1985, S.#4). Mit dieser Erz−hlpraxis, einen existierenden Raum der Gegenwart in die Zukunft zu verle- gen (von der Raum- zur Zeitutopie), beruht die Plausibilit−t der Erz−hlung nicht mehr nur auf dem internen widerspruchsfreien Funktionieren der Gegenwelt. Vielmehr stellte sich die Fra- ge, wie es zu der Ver−nderung gekommen ist. Mit der Verlegung des Narrativs in di e Zukunft ist die Frage nach gesellschaftlicher Dynamik und Transformationskonzepten verbunde n: Wie kommt eine Gesellschaft von der aktuellen Gegenwart zum Zustand der vorausgeda chten zu- tigen Gegenwart? Diese Frage stellt sich insbesondere, wenn die politi sche Rationalit−t eine andere wird und sich die Institutionen, Rechtsformen und Verfahren entsprechend st ark ver−ndert haben. Das Genre, in dem diese Frage zunehmend behandelt wird, ist der Z ukunfts- roman, 4 der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Edward Bellamys Bestsel ler Looking backward, 2000Ð1887 aus dem Jahre 1888 (Bellamy 1888/1965) zu hoher Popularit−t kommt (Hılscher 1999, S.#135f.). Der Zukunftsroman behandelt Ereignisse einer ztigen Ge- genwart als Futur II: als Ereignisse, die geschehen sein werden. Anders als in den Utopien der fn Neuzeit, in denen die alternativen Gesellschaften durch Reiseerz−hle r beschrieben wurden, veen Zukunftsromane wie der von Bellamy die private Geschichte Einzelne r mit der Darstellung einer anderen Gesellschaft. Bellamy l−sst seinen Protagonisten Julian West, der nach mehr als hundert Jahren aus einem Tiefschlaf geweckt wird, im Jahr 2000 se i-ne neue Gegenwart beschreiben und zugleich einen Blick auf seine Vergangenheit i m 19. Jahrhundert werfen. In dialogischen Auseinandersetzungen vergleicht der Protagonist die Vergangenheit mit dem Jahr 2000. Bellamy muss sich aufgrund der narrativen Historisi erung seiner zeitgenıssischen Gegenwart zur Frage der Transformationsprozesse hin zu de r neuen politischen Rationalit−t des Jahres 2000 −u§ern. Er bleibt vage, wenn er beschreibt , dass Ver- nunft und Gemeinsinn der Errichtung eines genossenschaftlichen Staatswesens i m 20. Jahr- hundert den Weg geebnet haben. Die Antizipation der ztigen Technologien folgt dem zeitgenıssischen ingenieurswissenschaftlichen Diskurs und bezieht sich sta rk auf Techno lo-gien, die seinerzeit von hohem Neuigkeitsgrad und hoher Dynamik gekennzeichnet sind. Bei 4 Zur literaturwissenschaftlichen Abgrenzung und Defin ition von Zukunftsromanen im deutschsprachigen Raum siehe: Brandt 2007.

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ANTIZIPATION VON ZUKUNFT ZWISCHEN VERWI SSENSCHAFTLICHUNG UN D STORYTELLING 367 Bellamy ist dies neben den Technologien zur Einsparung von Arbeit insbesondere die T ele- kommunikation, so z.#B. ein Radiotelefon, das verschiedene Musikprogramme in die Hau s-halte verteilt: ÈDiese S−le sind durch Telephon mit allen H−usern in der Stadt verbundenÇ (Bellamy 1888/1965, S.#94). Die Darstellung von Technologien fungiert dabei als Wissens- kommunikation, die Wissenschaft in einen Alltag der Zukunft bringt, und situiert di e Erz−h- lung in einem technisch bestimmten Fortschrittsdiskurs. ÝArbeit ersparende Erf indungenÜ in- klusive einer hochentwickelten Logistik dienen der Reduktion der gesellschaftlic h notwend i-gen Arbeit Diese wird von einer hierarchisch gegliederten Arbeitsarmee verrichtet. Die politischen Utopien und politisch-utopischen Zukunftserz−hlungen verfahren nicht e x- trapolierend in dem Sinne, dass Dynamiken, die in der Gegenwart identifiziert werden, in die Zukunft verl−ngert werden. Vielmehr werden diese Utopien von der herrschenden politische n Rationalit−t und ihren Institutionen und Verfahren so stark dominiert, dass in der Da rstellung die Alltagspraxen von ihr her gezeichnet werden. Dar hinaus erscheint sie als r- schreitbarer Rahmen fe wissenschaftlich-technische Dynamik. 2. Zukunft als Extrapolation der Gegenwart: Wissenschafts – und technikbasierte Zukunftskonstruktionen Die Extrapolation zeitgenıssischer Dynamiken und technologischer Entwicklungen in di e Zukunft wird im 19. Jahrhundert zu einer verbreiteten Praxis in der Konstruktion von Zu- kunft. Nun ist die politische Rationalit−t nicht mehr nur die Grenze und der Rahm en, in der ordnungsad−quate wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Artefakte produziert wer- den, sondern die von den Autoren identifizierte wissenschaftlich-technische Dyna mik selbst wird zum Ausgangspunkt der umfassenden gesellschaftlichen Konstruktion von Zukunft. Marx und Engels (1848/1972) entwarfen 1848 im Auftrag des Bundes der Kommunisten das Kommunistische Manifest , das diese Herangehensweise exemplarisch formuliert. In apo- diktischen, kurzen S−tzen wird das Kommende antizipiert als Geschichte È der Klasse, welche die Zukunft in ihren H−nden tr−gtÇ (ebd., S.#471). ÈAn die Stelle der alten lokalen und natio- nalen Selbstgeamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verke hr, eine allseitige Abh−ngigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der gei stigen Produktion.Ç Durch die Èrasche Verbesserung aller ProduktionsinstrumenteÇ und die Èunend- lich erleichterten KommunikationenÇ (ebd., S.#466) werden alle gezwungen, sich diese Pro- duktionsweise anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. Die kleine Flugsc hrift zur Macht der Zukunft, die zur einflussreichsten Einzelschrift von Marx und Engels w urde, war

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ANTIZIPATION VON ZUKUNFT ZWISCHEN VERWI SSENSCHAFTLICHUNG UN D STORYTELLING 369 verkehr weitgehend ersetzt. W−hrend die politischen Utopien der fn Neuzeit pol itische Rationalit−ten institutionalisierten, um einen Rahmen fInnovationen zu schaff en, der diese immun gegen die Irrationalit−ten ihrer Herkunftsgesellschaften machen sollte , sind Wissen- schaft und Technik bei Smith die Kraft, die die Probleme selbst lıst ode r entsch−rft. In der beschriebenen Zukunftswelt sieht Smith befruchtete Zellen au§erhalb des Kırpe rs der Mutter heranreifen (ebd., S.#14f.), wodurch Frauen beruflich weniger diskriminiert wn und der Staat bestimmen kann, welche Paare Kinder bekommen und welche Merkmale di ese haben sollen. Die Verwendung zeitgenıssischer Forschungsergebnisse spezifischer Forsche r im Kontext einer breiten Zukunftskonstruktion wird hier zum strittigen Punkt. John Burdon Sanderson Haldane, Genetiker und einer der Ber der Populationsgene- tik, warf Smith vor, nicht weniger als 24 direkte Anleihen aus seinen hern Daedalus (1924) und Possible Worlds (1927) vorgenommen zu haben. In der weiteren Kontroverse, die sich beide in der Presse lieferten, tat Haldane schlie§lich kund, Smith h−tte seine wildesten Spekulationen ernst genommen (vgl. Campbell 1983, S.#828f.). Smith schrieb in seinem Vor- wort selbst explizit, er w sich in den Fu§stapfen von Jules Verne, Edward Be llamy, Wells und Haldane sehen. Seine Methode, Science und Fiction zu verbinden, explizierte er nicht weiter, genauso wenig, wie er den Status seiner unterschiedlichen Quellen m ethodisch auf- einander bezog. Der Streit um die Erfindung einer spezifischen Zukunft wurde ein P olitikum, denn auf der konservativen Seite werden, wie Smith es ausf, ztige Technol ogien so projiziert, dass sie der Menschenzhtungsidee, die bereits Platon verfolgte, di enen. Diese Zukunftsprojektion wurde seinerzeit sehr unterschiedlich gesehen. Haldane sah ein Zeitalter der Freiheit anbrechen, wenn Reproduktion und Liebesbeziehungen voneinander entkoppelt sind (Haldane 1925). Bertrand Russell antizipierte eine tere Zukunft: Schnell w ÈOp- position gegen die Regierung als Beweis fSchwachsinnÇ gelten, sodass ÈRebell en aller Art unfruchtbar gemacht werden enÇ (Russel 1926, S.#42). Sein Fazit: ÈDie Wissenscha ft setzt die Inhaber der Macht in den Stand, ihre Ziele in vollerem Ma§e zu ve rwirklichen, als es ihnen sonst mıglich w−re. Wenn ihre Absichten gute sind, dann ist das ein Gewi nn, wenn sie schlechte sind, ein VerlustÇ (ebd.). Die Kontroverse um die Erfindung von Zten als ei- ner Gemengelage aus normativ gewchten Entwicklungen und der Exploration des techn o-wissenschaftlich Mıglichen ist insofern gekoppelt an deren politische Implika tionen. Denn die Anwendung von wissenschaftlichem Wissen und mıglichen Zukunftstechnologien wird hier in Erz−hlungen eingebettet, deren politische Rationalit−ten gegens−tzlich sind.

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PETRA SCHAPER -RINKEL 370 3. Zukunft als kollektive, intersubjektive Erwartung: Die Delphi -Methode Ende der 1940er Jahre begann die •ra einer Forschung, die sich explizit als Zukunftsf or- schung bezeichnet, sich auf die Autorit−t wissenschaftlichen Wissens be zieht und eng mit staatlicher Politik verkoppelt ist. Als Ende der 1940er Jahre die ersten Think Tanks wie die RAND Corporation (1948) und das Stanford Research Institute (1946) in den USA get wurden, standen quantitative Methoden im Vordergrund. Dazu gehırten statistische Me tho- den der Zeitreihenanalyse, statistische Regressionsmethoden, demoskopische Hochre chnun- gen sowie spiel- und entscheidungstheoretische Ans−tze. Bei der Arbeit fmil it−rische Auf- traggeber wurden in der RAND Corporation Planspiele und Expertenvorhersagen eingesetzt und mit neuen kollektiven Verfahren experimentiert, um Expertenwissen in die quanti tativ ausgerichtete Forschung zu integrieren. Im Jahr 1953 erprobten Olaf Helmer und Norman Dalkey im ÈProject DelphiÇ ein Verfahren, das Zukunftserwartungen von Experten anonym i- sieren sollte und trotzdem Feedback-Schleifen integrierte (Dalkey/ Helmer 1963). Experten wurden dabei Thesen zur Zukunft ihres Fachgebietes vorgelegt, und nach der Auswertung der ersten Runde wurden sie in einer zweiten Runde aufgefordert, ihre Antworten unter dem Ein- fluss der Einsch−tzungen ihres Fachkollegiums zu rdenken und erneut eine Einsch−t zung abzugeben. Mit der Anonymit−t sollte den Befragten die Mıglichkeit gegeben werden, ihre Meinung zu revidieren, ohne sich fihre Meinungs−nderung rechtfertigen zu msen. Die Artikulation der Zukunftserwartungen wurde anonymisiert, um Status und Gruppenzwang innerhalb einer spezifischen Gruppe zu minimieren. W−hrend die Antizipation von Zukunf t zuvor eine individuelle Praxis war, wird sie mit der Delphi-Methode zu einem Gruppen- prozess. Feststellen l−sst sich mit dem Verfahren, in welchen Einsc h−tzungen sich die Mei- nungen der Experten decken und in welchen sie auseinandergehen (Linstone/Turoff 2011). Wenn Fragen zu ztigen Technologien mit konkreten Zeithorizonten gekoppelt sind, wird plastisch sichtbar, wann die Mehrheit der Beteiligten eine bestimmt e Entwicklung erwar- tet oder auch welche Entwicklungen fehr unwahrscheinlich gehalten werden. Die Autorschaft der spezifischen Zukunftserwartung ist keine individuelle me hr, sondern Autorit−t und ıffentliche Wirksamkeit des Delphi-Verfahrens konstituieren sic h dadurch, dass es eine wissenschaftliche Community ist, die die Zukunft antizipiert. G leichzeitig hat das Ver- fahren selbst einen experimentellen Charakter. Es handelt sich um eine sta tistische Aus- wertung von Erwartungen, die als Generator fwissenschaftliches Wissen begrif fen wurde. Von seinen Erfindern wurde dieses Verfahren als vielversprechendste Anordnung zur Syste -matisierung von zukunftsorientiertem Wissen gesehen:

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ANTIZIPATION VON ZUKUNFT ZWISCHEN VERWI SSENSCHAFTLICHUNG UN D STORYTELLING 371 ÈDa nun mal der Gebrauch intuitiver Voraussagen als Beweis fr eine langfristige Planung unvermeidlich ist, sollten wir wenigstens den Versuch machen, das intuitive Urteil so systematisch wie mıglich von Menschen zu erlangen, die als Fachleute fr das betr effende Gebiet geltenÇ (Helmer/Gordon 1967, S.#13). Da sich im Falle eines weiten Zeithorizonts Experten auf Intuition st att auf explizit benennba- res Wissen stzen, sollte eben jene Intuition systematisiert werden, i ndem die Einsch−tzun- gen derer, deren Expertise als repr−sentativ fein Fachgebiet gesehen wurde, ge lt wer- den; eine Anordnung mit direkter kkopplung der Fachgemeinschaft und Einsch−tzung durch die Gruppe. Neben den Problemen der Zusammenstellung der Gruppen und der Schwierigkeit, Fragestellungen zu formulieren, sahen die Autoren der Studie selbs t das Prob- lem der ÈProphezeiungen selbsterflender und selbstnegierender ArtÇ sowie die G efahr, dass diejenigen, die mit ihrer Expertise Teil der Generierung von Zukunft werden, mit ihrer Posit i-on Politik zu machen versuchen (ebd., S.#7). Die ersten Delphi-Studien zeigen ex post, dass Anfang der 1960er Jahre hohe Erwartungen in Forschungsfelder wie die Automatisierung gesetzt wurden und geringe Zeithorizonte f die Realisierung angesetzt wurden: Die Èautomatische Fremdsprachersetzung mit korrek- ter GrammatikÇ wurde bis sp−testens in den 1990er Jahren erwartet, Èautomati sierte medizini- sche DiagnosenÇ bis Ende der 1980er Jahre, und die meisten Experten erwarteten f Indus- trie und Regierungen ÈComputerentscheidungen auf FebeneÇ schon in den 1970er Jahren (ebd., S.#56). Selbst die Èwechselseitige Kommunikation mit Au§erirdischenÇ , die einer Minderheit als unrealisierbar galt, wurde mehrheitlich fden Zeitraum nach 2020 er- wartet (ebd., S.#66). Die Erwartungen an einzelne Technologien und wissenschaftliche En t-wicklungen wurden im Bericht als ztige Gegenwart dargestellt, sodass die Delphi- Studie eine ztige globale Gesellschaft im Jahr 1984 antizipierte, in de r die Welt kommu- nikationstechnisch umfassend r Satelliten vernetzt ist und automatische ƒbersetzungssys- teme die Kommunikation r Sprachr−ume hinweg ermıglichen (ebd.). Die Zukunftskon- struktionen verallgemeinern ihre spezifischen Gegenst−nde zu einer allgemeine n ztigen Gegenwart, doch ihre Autorit−t speist sich daraus, keine zuf−lligen und individuel len Vorstel- lungen zu pr−sentieren, sondern vielmehr darzustellen, was kollektiv fdie Zukunft e rwartet wird: antizipiert von Experten durch einen systematischen, experimentellen Proze ss, also die Praxis der Wissenschaft selbst. Der gesellschaftliche Kontext, in den die Technologien ein- gebettet werden, war aber kein Gegenstand der Befragung. Strukturell bleibt die Zukunftskonstruktion mit der Delphi-Methode singul−r, denn die aus den ersten Delphi-Studien resultierende Darstellung der Zukunft stellt nur ztige Ereig- nisse dar, die als wahrscheinlich gelten, weil die Fach-Community sich untereinander angen−-

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PETRA SCHAPER -RINKEL 372 hert hat, also kollektiv die Ansicht vertritt, dass bestimmte technowiss enschaftliche Entwick- lungen voraussichtlich zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben sein werden. Es w ird nicht dargestellt, wie eine Welt der Zukunft aussehen kınnte, in der Entwicklungen ei ntreten, die nur von einer Minderheit als wahrscheinlich erachtet werden. Au§erdem wird in den D elphi- Studien nicht sichtbar, welche Faktoren als notwendig erachtet werden, um zu einer bestimm- ten Entwicklung oder Technologie in der Zukunft zu kommen. Die politischen Rationali t−ten bleiben im Hintergrund, denn der Horizont der gewchten wie auch der antizipierten Z u- kunft hat sich gewandelt, da wissenschaftlich-technische Entwicklungen se lbst zum Haupt- gegenstand des Gewchten und Antizipierten geworden sind: W−hrend Wissenschaft und Technik in den Utopien der fn Neuzeit in ihrer Entwicklung der politischen Ordnung und Stabilit−t untergeordnet waren und in den Utopien des 19. Jahrhunderts Wissenschaft und Technik als Voraussetzung feine ver−nderte politische Rationalit−t galte n, wird in den De l-phi-Studien das Verh−ltnis von umfassenden technologischen Ver−nderungen und ihrer g e-sellschaftlichen Sprengkraft nicht expliziert. Die Frage nach Politik wi rd erst mit der sp−teren Szenariomethode zum expliziten Thema. 4. Zukunft als staatliches Planungsobjekt: Szenarien zur Absicherung der Standardwelt Ab den 1960er Jahren entwickelte sich in den USA eine Zukunftsforschung, die auf di e Sys- temkonkurrenz mit der Sowjetunion und auf die Spannungsverh−ltnisse in der bipolaren Weltordnung ausgerichtet war. Herman Kahn, m−chtiger und ıffentlichkeitswirksamer Ver- treter der US-amerikanischen Planungskultur, die von der Hypothese zunehmender staatli cher Steuerungsmıglichkeiten ausging, te 1961 das konservative Hudson Institute . Zusa m-men mit Anthony J. Wiener verfasste er einen Bestseller mit dem Tite l The Year 2000: A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years (Kahn/Wiener 1967). Politik- wissenschaft hat dabei den Status, Èztige Ereignisse vorwegzunehmen, das W chens- werte wahrscheinlich und das Unerwchte weniger wahrscheinlich zu machenÇ ( Kahn/ Wiener 1971, S.#19). Die Erstellung von Prognosen und die Darstellung, inwiefern z- tige Entwicklungen von jeweils gegenw−rtigen politischen Ma§nahmen abh−ngig sind, bi etet in diesem Kontext die Grundlage flangfristiges und zielgerichtetes politi sches Handeln. Zwar lie§e sich der Gegenstandsbereich der Zukunft nicht empirisch erforschen, doc h wn Ègute politikwissenschaftliche Untersuchungen am ehesten klares Beweisma terial, eindeutig formulierte Fragen und verh−ltnism−§ig objektive Theorien erbringenÇ (ebd., S.#20). Ein

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