beeinflusst werden kann bzgl. der Entwicklung von Behinderung (Disability), aezq.de/mdb/edocs/pdf/schriftenreihe/schriftenreihe41.pdf.

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DEGAM Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlungen, die Grundlagen für die gemeinsame Entscheidung von Ärzten und deren Patienten zu einer im Einzelfall sinnvollen gesund -heitlichen Versorgung darstellen. Eine Leitlinie kann verständ – licherweise nicht alle denkbaren individuellen Situationen erfassen. In begründeten Fällen kann oder muss sogar von einer Leitlinie abgewichen werden. Leitlinien sind juristisch nicht bindend. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinme -dizin und Familienmedizin (DEGAM), der wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin, zielen auf die Be – schreibung angemessenen, aufgabengerechten Handelns im Rahmen hausärztlicher bzw. allgemeinmedizinischer Grund -versorgung. Unbenommen bleibt dabei, dass Hausärzte auch Spezialge -biete beherrschen können und dann dementsprechend in Einzelbereichen eine Spezialversorgung anbieten können; diese hat dann allerdings den Leitlinien einer spezialisierten Versorgung zu folgen. Zur Weiterentwicklung sind Kommentare und Ergänzungen von allen Seiten herzlich willkommen und sollten bitte ge -sandt werden an die: DEGAM-Geschäftsstelle Leitlinien Dr. med. Anne Barzel c/o Institut für Allgemeinmedizin Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Tel.: +49 (0)40 7410-59769 Fax: +49 (0)40 7410-53681 leitlinien@degam.de © DEGAM 2017 Herausgeber Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Berlin

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DEGAM Autoren Martin Scherer, Hans-Otto Wagner, Dagmar Lühmann, Cath -leen Muche-Borowski, Ingmar Schäfer, Hans-Hermann Dub -ben, Heike Hansen, Rüdiger Thiesemann (DGGG), Wolfgang von Renteln-Kruse (DGIM), Werner Hofmann (DGG), Joachim Fessler, Hendrik van den Bussche Wir danken Christiane Muth und Martin Beyer für die Unter -stützung bei der Abfassung der Kapitel 2 und 3 dieser Leitli – nie.Konzeption und wissenschaftliche Redaktion Ständige Leitlinien-Kommission der DEGAM Stand 02/2017 Revision geplant 02/2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Her -ausgebers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover˜lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys -temen. Alle in diesem Werk enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden von den Autoren und der Herausgeberschaft nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jede Verp˚ichtung oder Garantie. Die DEGAM übernimmt deshalb keinerlei Ver -antwortung und Haftung für etwa vorhandene inhaltliche Unrichtigkeiten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Marken -schutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Zur besseren Lesbarkeit wurde bei personenbezogenen Bezeichnungen (z.B. Patient) im gesamten Dokument die männliche Form verwendet. Es sind damit immer Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.

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4Inhalt0 Präambel 51 Einführung 61.1 Ausgangssituation 61.2 Ziel der Leitlinie 81.3 De˜nition und Epidemiologie von Multimorbidität 81.4 Versorgungsprobleme 10 2 Ein˚ussfaktoren auf die Entwicklung von Multimorbidität 12 3 Folgen von Multimorbidität 15 4 Frailty (Gebrechlichkeit) 18 5 Patientenperspektive 21 6 Das Arzt-Patienten-Gespräch fokussiert auf Patienten mit Multimorbidität 24 7 —Meta-Algorithmusfi zur Versorgung von Patienten mit Multimorbidität 288 Methodik des Multimorbiditäts-Algorithmus 309 Management von Multimorbidität 3410 Kooperation mit Spezialisten 51 11 Tool-Box 5311.1 Werkzeuge zur Optimierung der Arzneimitteltherapie 5311.2 Instrumente zur Unterstützung der Arzt-Patienten-Kommunikation 5412 Referenzliste 56

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50 Präambel Multimorbidität ist ein wachsendes Phänomen, das zukünftig eine noch größere Heraus -forderung in der hausärztlichen Versorgung darstellen wird. Die ärztliche Tätigkeit bei der Versorgung dieser Patienten ist eine hochanspruchsvolle Aufgabe. Das Spannungsfeld liegt zwischen den Ansprüchen wissenschaftlich fundierter Medizin einerseits, den vorhandenen Rahmenbedingungen und der Anpassung dieser Medizin auf den individuellen Patienten. Es ist nicht möglich, den Problemen der Polypharmazie, den widersprüchlichen Behandlungs -strategien und den Wünschen und Bedürfnissen der meist älteren Menschen mit den bisheri -gen Instrumenten krankheitsspezi˜scher Leitlinien zu begegnen. Trotz erheblicher Fortschrit -te in den Bereichen technischer Unterstützung und der EDV ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Probleme auf absehbare Zeit sinnvoll nur im persönlichen Gespräch zwischen Arzt und Patient behandelt werden können. Eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung komplexer Problemlagen bei Multimor -bidität ist hinreichend Zeit für die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zwecks gemein -samer Entscheidungs˜ndung. Hierzu gehören Rahmenbedingungen, bei denen die nötige Zeit dafür gegeben ist. Es erfordert eine vertrauensvolle Atmosphäre, um Themen wie die Lebensqualität und Lebenslänge, Ziele und Erwartungen der oft älteren und gebrechlichen Menschen anzusprechen. Hausärztinnen und -ärzte steht diese Zeit u.a. aufgrund der hohen Konsultationsraten oft nicht zur Verfügung. Politik, Ärzte und Gesellschaft sind gefordert dafür die entsprechenden Voraussetzungen zu ermöglichen. Hierzu gehören in erster Linie die Sicherstellung eines ausreichenden Angebots an für eine derartige Betreuung zur Verfügung stehende Ärztinnen und Ärzte, eine ausrei -chende Personalausstattung der Praxen, Möglichkeiten der Delegation von Aufgaben an an – dere Berufsgruppen und nicht zuletzt eine angemessene Honorierung der (haus-) ärztlichen Leistungen, die eine derartige zeitintensive Leistung anerkennt.

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61 Einführung Zur Anwendung der Leitlinie: Der Hintergrundtext stellt jeweils eine Zusammenfassung des Forschungsstands dar. Handlungsleitende Empfehlungen ˜nden sich ausschließlich in ausge -wiesenen Kästen. 1.1 Ausgangssituation Bereits im Jahr 2005 machten die US-amerikanische Geriaterin Cynthia Boyd und ihre Kollegen in einer Schlüsselpublikation im JAMA (Journal of the American Medical Association) auf die Problematik von auf Einzelerkrankungen fokussierenden medizinischen Leitlinien aufmerksam [1]. Am Fall einer 79-jährigen Patientin mit arterieller Hypertonie, Herzinsuf˜zienz, koronarer Herzerkrankung, Vorhof˚immern, Arthrose, Osteoporose, Diabetes und COPD demonstrier -ten sie in eindrucksvoller Weise das Dilemma. Wenn man diese Patientin leitliniengerecht be – handeln würde, erhielte sie entsprechend der Leitlinienempfehlungen 12 verschiedene Medi – kamente und müsste ein kompliziertes, nichtmedikamentöses Therapieprogramm bestehend aus 24 täglich zu befolgenden verhaltensbezogenen Therapieregeln einhalten. Die Kosten für diese Medikation wurden mit 13$ am Tag bzw. 4877$ im Jahr beziffert. Die Illustration dieses Falles zeigt, dass die Kumulation von einzelnen Leitlinien insofern problematisch sein kann, als dass eine solche Verkettung von monomorbid ausgerichteten Leitlinienempfehlungen, die sich inhaltlich nicht auf einander beziehen, das Potential hat, Polypharmazie und unüberschaubare Interaktionen, unerwünschte Wirkungen sowie widersprüchliche Behandlungsstrategien zu verursachen. Prinzipiell besteht ein breiter Konsens, dass Leitlinien explizit darauf eingehen sollten, inwie – weit die einzelnen Empfehlungen bei Multimorbidität Gültigkeit besitzen. Hinzu kommt die z. B. von Tinetti et al. 2012 im JAMA formulierte Forderung, Versorgung an den Prioritäten und Zielen der Patienten auszurichten Œ auf Basis einer Evidenzgrundlage, die systematisch an Individuen mit multiplen Erkrankungen erhoben wurde. [2] Lange Zeit mangelte es an konkreten Ansätzen zur konzeptionellen und methodischen Umsetzung. Erste Hilfestellung zur Polypharmazie liefert die Leitlinie —Multimedikationfi der hessischen Leitliniengruppe. [3] Bei der Ableitung der handlungsleitenden Empfehlungen in dieser Leitlinie wurde auch der Bezug zur NICE-Guideline [4] hergestellt Œ einerseits zum Abgleich und zur Überprüfung und andererseits zur inhaltlichen Ergänzung. Einige Kapitel enthalten Adaptionen der NICE-Emp -fehlungen. Dennoch wurde die Leitlinie nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen, da sie nicht auf den primärärztlichen Versorgungsbereich in Deutschland anwendbar ist nicht die Denkprozesse einer alltäglichen Konsultation abbildet, und einem diagnosezentrierten Verständnis von Multimorbidität folgt und dabei weitgehend die Kontextfaktoren unberücksichtigt lässt.

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81.2 Ziel der Leitlinie Die Ziele dieser Leitlinie sind die vorhandene Evidenz zur primärärztlichen Versorgung multimorbider Patienten zu sammenzutragen und sie in hausärztlich relevante Empfehlungen umzusetzen; einen —Meta-Algorithmusfi anzubieten, der eine Strukturierung der Konsultation und die Priorisierung von Problemen ermöglicht und dadurch dem —Überwältigtseinfi von der Komplexität und Vielfalt der Problemlagen entgegen zu wirken; die Patientenperspektive in den Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse zu stellen; eine über den Beratungsanlass hinausgehende strukturierte Vorgehensweise vorzuschlagen. Hierbei wird an den entscheidenden Stellen Bezug auf die Hessissche hausärztliche Leitlinie Multimedikation genommen [3]. Ziel der Leitlinie ist es nicht, die tausenden möglichen Krankheitskombinationen abzuarbeiten und die sich daraus ergebenden klinischen Detailfragen Stück für Stück zu beantworten. Ein Anliegen dieser Leitlinie ist es, wichtige Ein˚ussfaktoren auf die Entstehung und den Ver- lauf von Multimorbidität zu adressieren. Das Ziel ist, einerseits ausreichend allgemein zu blei -ben, um der Vielfalt und Heterogenität gerecht zu werden und andererseits hilfreiche Hinweise und Empfehlungen für den Einzelfall zu geben. Letztlich geht es auch darum, den Betroffenen zu ermöglichen, ein Leben mit guter Qualität zu führen und dabei sich mit den multiplen Di -agnosen möglichst wenig krank zu fühlen. Zielgruppe und Adressaten der Leitlinie Die Patientenzielgruppe der Leitlinie sind erwachsene multimorbide Patienten (mindestens drei Erkrankungen) mit oder ohne akuten Beratungsanlässen und ggfs. komplexen psychoso -zialen Problemlagen. Siehe hierzu auch das Kapitel —De˜nition und Epidemiologie von Multi -morbiditätfi. Im Vordergrund stehen hierbei die Patienten, die im Sinne der Multimorbiditäts – folgen Einschränkungen erfahren haben (s. Kapitel 3 —Folgen von Multimorbiditätfi). Adressaten der Leitlinie sind vor allem in der hausärztlichen Versorgung tätige Ärztinnen und Ärzte (in der erster Linie Allgemeinmediziner, Internisten und Geriater). Die Leitlinie kann dar -über hinaus zur Information für alle ärztlich Tätigen dienen, die Patienten mit Multimorbidität versorgen. 1.3 De˜nition und Epidemiologie von Multimorbidität Es existieren zahlreiche De˜nitionen und Operationalisierungen von Multimorbidität (vgl. [10]). In dieser Leitlinie bezeichnet Multimorbidität das gleichzeitige Vorliegen mehrerer chro –

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9nischer Erkrankungen (drei oder mehr I), wobei nicht eine einzelne Erkrankung im besonde -ren Fokus der Aufmerksamkeit steht und Zusammenhänge zwischen den Krankheiten zwar bestehen können (z.B. über geteilte Risikofaktoren, oder bei Folgeerkrankungen), aber nicht müssen.II Selbst der Begriff Morbidität ist unscharf. Er umfasst sowohl von den Patienten auch als sol – che erlebten symptomatischen und sie einschränkenden Krankheiten als auch reine Krank -heits-Konditionen. Ein Patient mit Hyperlipidämie, Hypertonie und latenter Hypothyreose wird sich möglicherweise überhaupt nicht krank fühlen – am ehesten durch die Vergabe der entsprechenden Diagnosen im Sinn eines Labeling (ich fühle mich nur deshalb krank, weil ich mit einer bestimmten Diagnose bedacht worden bin) [11-13]. Multimorbidität ist ein wachsendes Phänomen, das im höheren Lebensalter zunimmt. Aller -dings lässt sich die Prävalenz sehr schlecht quanti˜zieren, da es keinen Konsens in der For -schergemeinschaft gibt, wie Multimorbidität zu de˜nieren und zu messen ist Œ insbesondere im Hinblick auf die Frage, welche Erkrankungen eingeschlossen werden müssen, und sich große Unterschiede in der Prävalenz je nach Population, Setting und Datenquelle ergeben. Anhand der bislang veröffentlichten Daten kann aber von einer Prävalenz bei älteren Men -schen zwischen 55% und 98% ausgegangen werden [9, 10]. I Von Multimorbidität beim Vorliegen von drei und mehr chronische Krankheiten zu sprechen, ist eine normative Entscheidung der LL-Gruppe, die im Westenlichen auf Erfahrungen im MulitCare-Projekt zurückgehen. Der Mainstream der Literatur geht – auch bei alten Menschen – bereits von MM beim Vorliegen von 2 chronischen Krankheiten aus. Das hat zur Folge, dass in vielen Ländern/Untersuchungen >85% der Menschen multimorbide sind, was die De˜nition und die Forschung zu gewissermaßen ad absurdum führt. Abgesehen von der bloßen Zahl der Krankheiten ist bei der De˜nition zu beachten, dass es sich um chroni – sche Krankheiten handeln muss, die die Patienten belasten und ärztliche und/oder p˚egerische Versorgung erfordern. II Methodische Anmerkung zur Anzahl von Diagnosen aus Sozialgerichtsakten: Aus gerontologischer Sicht ist anzumerken, dass eine De˜nition von Multimorbidität, die sich an der Anzahl der Diagnose bzw. der Anzahl von Erkrankungen ausrichtet, im DRG-Zeitalter besondere Fragen zur Stabilität dieser —numerischen Angabefi auf- wirft. Begründung: 1. Zu beobachten ist in Sozialgerichtsakten, dass die Behandlung des gleichen Menschen und des gleichen Falles im gleichen Zeitraum mit grob unterschiedlichen Datensätzen (Datensatz vom Leistungserbringer versus Datensatz des Kostenträgers) ab – gebildet wird. Die Ursache liegt im Softwarebereich (unterschiedliche Thesauren und Grouper, Unfähigkeit zum elektronischen Empfang von Daten nach § 301 Satz 8-Daten). 2. Es ist in den Krankenhausabteilungen zu beobachten, dass sich die Anzahl und Beschaffenheit der —Diagnosenfi dahinge -hend ändert, dass ökonomisch —reizvollefi sprich Erlössteigernde Diagnosen vermehrt auftreten. Nach der Kodierung durch die Ärzteschaft werden (bis zu 4 Jahren nach Rechnungslegung) noch Änderungen am Datensatz vorgenommen (z.B. durch Kodierfachkräfte, Controlling und MDK). Bestimmte Komplikationen (wie z.B. mechanische Komplikationen nach Endoprothe – sen-Implantationen) werden vereinzelt gar nicht kodiert, da diese bei Kostenträger als —Komplikationfi gewertet werden und zu Qualitätsabschlägen führen könnten. Andere geriatrische Diagnosen oder Syndrome (wie —Frailtyfi) können noch nicht kodiert werden, da sie entweder in der ICD nicht abgebildet sind oder näher an der ICF liegen. Hierdurch können auch —Fälle mit 2 Diagnosen/Menschen mit 2 Erkrankungenfi schnell zu —Fällen mit 3 Diagnosen/ Menschen mit 3 Erkrankungenfi werden und so die Schwelle zur Multimorbidität überschreiten. Des Weiteren werden auch —Diagnosenfi bzw. deren Abrechnungscodes aufgeführt, die nur Operationalisierungen von Ordinal-Skalen-Ergebnissen darstellen (z.B. U50.30 als Beschreibung eines Er -gebnisses im Barthel-Index). Insgesamt gibt es begründeten Zweifel daran, dass Anzahl und Menge von Diagnose-Datensätzen eine stabile Informationseinheit sind. Laut Statistischem Bundesamt wird jeder Dritte im Jahre 2060 mindestens 65 Jahre alt sein, jeder Siebente (14%) wird 80 Jahre und älter sein (1). Ein größerer Anteil an älteren Menschen in der Bevölkerung geht mit einem deutlichen Zuwachs an Krankheitsprävalenzen einher (2,3). Insbesondere Multimorbidität ist ein wachsendes Phänomen, welches zukünftig eine große Herausforderung in der hausärztlichen Versorgung darstellt (4).

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10Konsensbasiertes Statement Es gibt keine allgemeingültige De˜nition und keine allgemeingülti -ge Operationalisierung von Multimorbidität. Aus Gründen der Praktikabilität und der Anwenderperspektive wur -de die De˜nition von Multimorbidität in dieser Leitlinie als das Vor -liegen von mindestens drei chronischen Erkrankungen gewählt. 1.4 Versorgungsprobleme Neben funktionellen Einschränkungen, reduzierter Lebensqualität und steigender Mortalität geht Multimorbidität mit hoher Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und den da -raus resultierenden Kosten einher [10, 14-16]. Die Auswertung von Routinedaten der Gmün -der Ersatzkasse von van den Bussche et al. 2013 zeigt, dass multimorbide Versicherte (drei oder mehr chronische Krankheiten) in Deutschland innerhalb eines Jahres durchschnittlich mehr als doppelt so viele Arztkontakte (36,3 versus 15,9) wie nicht-multimorbide Versicherte hatten [17]. Darüber hinaus waren 89% sogenannter Häu˜gnutzer mit ˛ 50 Praxiskontakten pro Jahr von Multimorbidität betroffen [17, 18]. Studien zur Analyse der Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen und ihren Kosten zeigen häu˜g einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Krankheiten und der Häu˜gkeit der Inanspruchnahme. Meist neh -men Inanspruchnahme und damit die Kosten mit jeder weiteren Krankheit, die ein Patient aufweist, zu. Die Kosten sind dabei abhängig von Art und Anzahl der Krankheiten. [19-21]. Die Versorgung von Patienten mit Multimorbidität geht mit besonderen Herausforderungen einher, die sich aus dem ganzheitlichen Verständnis ergeben. Danach wird das Bild der Mul – timorbidität nicht nur durch die Addition und Interaktion von Krankheiten und Behandlungs -ansätzen geprägt, sondern ganz wesentlich auch durch die biopsychosozialen Reserven eines Individuums (—Resilienzfi), bzw. durch dessen Lebenskontextbedingungen sowie seiner Wert -vorstellungen und Prioritäten. Diese Rahmenbedingungen sind im Kontext von Behandlungs -entscheidungen bzw. Versorgungsentscheidungen im weiteren Sinne zu re˚ektieren [22]. Konzepte, die diese Anforderungen umsetzen, ˜nden sich in der Literatur unter dem Begriff —patientenzentrierte Versorgungfi (patient-centered care), in deren Zentrum stets die Arzt-Pa -tienten-Interaktion steht. Eine umfassende Literaturübersicht und ein integratives Modell, das letztendlich 15 Dimensionen zu Prinzipien, Gelingensbedingungen (für die Versorgung) und Aktionen zusammenführt, ˜ndet sich bei Scholl et al. 2014 [23]. Ein einfacheres, vierdimensio -nales Modell zur Beschreibung von patientenzentrierter Versorgung in der Allgemeinmedizin (family medicine) wird von Hudon et al., 2011 gewählt [24]. Die ineinandergreifenden Dimen -sionen sind das Krankheitserleben des Patienten, die Betrachtung aus der biopsychosozialen Perspektive, die Arzt-Patienten-Beziehung sowie die gemeinsame Entscheidungs˜ndung. Die praktische Umsetzung dieser Prinzipien ist jedoch von Schwierigkeiten, insbesondere im hau -9/9 2 Enthaltungen 11/11 Ergebnis der Abstimmung

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11/11 9/9 2 Enthaltungen Ergebnis der Abstimmung11särztlichen Kontext ist jedoch von Schwierigkeiten gekennzeichnet. Eine systematische Litera -turübersicht von zehn qualitativen Studien mit Hausärzten aus sieben Ländern stellt heraus, dass einige Hausärzte den individualisierten Ansatz der —patient-centered carefi als hilfreich empfanden, insbesondere im Hinblick auf die Au˚ösung von widersprüchlichen Empfehlun – gen. Andere dagegen sahen durch den Einbezug auch nicht-medizinischer und psychoso -zialer Problemlagen den Einzelfall weiter verkompliziert. Als wichtig für das Gelingen von —patient-centered carefi wurde von den meisten befragten Ärzten die langzeitige Arzt-Pati -entenbeziehung genannt, als eher hinderlich die hohe Behandlungslast (treatment burden), kognitive und motivationale De˜zite bei den Patienten, fehlende soziale Unterstützung und sozioökonomische Problemlagen des Patienten. Generell wirke sich bei der Versorgung von multimorbiden Patienten die Desorganisation und Fragmentation der Gesundheitsversor -gung, die Unangemessenheit existierender evidenzbasierter Leitlinien und Schwierigkeiten bei der Umsetzung der partizipativen Entscheidungs˜ndung erschwerend aus [25]. Probleme bei der Koordination und Kooperation zwischen den verschiedenen Bereichen und Professi -onen der medizinischen Versorgung, beispielsweise zwischen Hausärzten und Spezialisten werden in einer Vielzahl von Studien bestätigt [26-29]. Zu den aus Koordinationsmängeln resultierenden Versorgungsproblemen zählen z.B. unnötige Doppeluntersuchungen, unan -gemessene Polypharmazie oder konkurrierende Handlungsempfehlungen. Auch die kurzen Konsultationszeiten erschweren die Koordinationsfunktion des Hausarztes erheblich. Im in -ternationalen Vergleich liegt die durchschnittliche Kontaktzeit bei Hausärzten in Deutschland unter 10 Minuten, während sie in anderen OECD-Ländern (z.B. USA, Schweden) gemäß ei -ner jüngsten Übersichtsarbeit durchschnittlich bis zu 30 Minuten beträgt. [30] Eine weitere Herausforderung bei Multimorbidität ist die erschwerte gemeinsame Prioritätensetzung im Hinblick auf diagnostische, therapeutische oder auch sekundärpräventive Optionen, hier ist die Kongruenz zwischen Patient und Arzt nicht immer herstellbar. Studien zeigen, dass Hau -särzte tendenziell eher die Behandlung von den Krankheiten, die die Prognose beein˚ussen, fokussieren während Patienten ihre Beschwerden und Symptome stellen, insbesondere wenn es sich um akute Beschwerden handelt bzw. eine Behinderung und/oder der Verlust von Au -tonomie III und Teilhabe am sozialen Leben drohen [27, 31, 32]. Konsensbasiertes Statement Eine patientenzentrierte Versorgung von Patienten mit Multimorbi -dität und daraus resultierenden komplexen Problemlagen setzt aus -reichend Zeit für die intensive Arzt-Patienten-Kommunikation und gemeinsame Entscheidungs˜ndung sowie kommunikative Kompe – tenz voraus. Ärztinnen und Ärzte stehen unter einem hohen systembedingten Druck und können diese Zeit nur bedingt bereitstellen. III —In der angewandten Ethik wird (Patienten-) Autonomie unumgänglich als eine empirisch-psychologische Fähigkeit von Menschen zur rationalen Selbstbestimmung aufgefasst, die mit Hilfe von Kompetenztests gemessen werden kann. – Ferner besitzt —Autonomiefi als Selbstbestimmungskompetenz einen Gradienten. Als ein Schwellenwertkonzept kann sie je nach psychischen Fähigkeiten im Ausmaß differieren.fi (Baranzke H. in: Menschenwürde und Medizin. Hrsg. Joerden JC, Hilgen – dorf E, Thiele F.; Duncker & Humblot, Berlin, 2013; S. 640)

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