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ZUM ZUSAMMENBRUCH DER HEERESGRUPPE MITTE IM SOMMER 1944 Vorbemerkung des Herausgebers: Abweichend von der sonst in dieser Zeitschrift üblichen Praxis wird die im folgenden abgedruckte bedeutsame Quelle von dem Autor des Dokuments selbst eingeleitet. Eine kritische Kommentierung durch einen an den Ereignissen nicht beteiligt gewesenen Fachmann erschien als unnötig. H. R. * D er Zusammenbruch der mittleren Ostfront im Sommer 1944 gehört zu den schwersten Niederlagen, die das deutsche Heer während des zweiten Weltkrieges erlitten hat. Die Schlacht in Weißrußland begann am 22. Juni 1944 Š dem dritten Jahrestag von —Barbarossa” Š mit der Offensive weit überlegener russischer Kräfte gegen den zwischen Bobruisk und Witebsk über den Dnjepr nach Osten vorspringenden Frontbogen der Heeresgruppe Mitte; sie endete zwei Wochen später bei Minsk nach der Zerschlagung von 28 deutschen Divisionen und mit dem Verlust von 350 000 Mann. Damit übertraf das Ausmaß der Katastrophe allein zahlenmäßig Stalingrad um das Doppelte. Noch folgenschwerer war ihre operative Auswirkung: sie gab der russischen Führung die Möglichkeit, nicht nur in der Mitte die deutsche Front bis auf die Weichsel und die ostpreußische Grenze zurückzuwerfen und die im Baltikum stehenden deutschen Kräfte abzuschneiden, sondern auch im Süden den Zugang zum Balkan zu öffnen und hier die deutsche Stellung politisch und militärisch aufzurollen. Anders als bei Stalingrad sind dem deutschen Volk im Sommer 1944 weder die Tatsache noch der Umfang der Katastrophe in Weißrußland recht klar geworden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war nach Westen gerichtet, wo die Schlacht an der Invasionsfront in der Normandie gerade ihren Höhepunkt erreichte, und so war es nicht schwierig, die Tragweite der gleichzeitigen Vorgänge an der Ostfront der Öffentlichkeit gegenüber zu verheimlichen. Nur undeutliche Gerüchte über das Geschehen drangen in das Volk. Der 20. Juli 1944 gab dann der nationalsozialistischen Führung Gelegenheit, solche Gerüchte aufzufangen und in einer ihr erwünschten Richtung sogar zu bestätigen, indem sie durch die Parteiorgane verbreiten ließ, —Verrat” und —Sabotage” der Generale an der Front seien die Ursache der katastrophalen Niederlage gewesen. Für diese Beeinflussung der Volksmeinung sind die Ausführungen Himmlers bezeichnend, mit denen er in seiner Rede auf der Gauleitertagung in Posen am 3. August 1944 auf die Vorgänge Bezug nahm: —Bei diesem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte müssen wir uns klar sein, daß hier etwas Ungeheuerliches vor sich gegangen ist. Denn es ist allein mit normalen Mitteln nicht erklärbar, daß eine Heeresgruppe mit 28 Divisionen wie Sand und Streu auseinanderstiebt. Die Truppe war von der einen Seite durch die nicht vorhandene oder defaitistische Hand der Führung, der Korps- und Armeeführung, andernteils auch durch die sich immer mehr verbreitende Sitte oder Unsitte, sich gefangen zu geben und bei Herrn Seydlitz und bei den Russen General zu spielen, im Innern absolut ins Wanken gekommen ” Auf die weiteren Einzelheiten der von Himmler gegebenen Darstellung der

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318 Dokumentation Ereignisse kann hier verzichtet werden; sie sind im ersten Jahrgang dieser Zeitschrift (S. 377 f.) nachzulesen. Ihnen gegenüber sei aber auf folgendes hingewiesen: Auf Grund einer von Hitler angeordneten kriegsgerichtlichen Untersuchung wurden Tausende von —Rückkämpfern”, die sich einzeln oder in kleinen Gruppen aus dem Einschließungsring zu den deutschen Linien durchgeschlagen hatten, einer planmäßigen Befragung über das Verhalten aller höherer Führer bis zum Regimentskommandeur einschließlich unterworfen. Diese Befragung ergab zwar manche Berichte über das menschliche Versagen Einzelner (wie es im Zusammenhang eines solchen Geschehens verständlich sein mag), aber auch nicht den Schatten eines Beweises, daß einer der in Frage komm enden Befehlshaber und Kommandeure —Verrat” oder —Sabotage” geübt hat. Auch die Tatsache, daß sich einige Generale der eingeschlossenen Verbände der 9. und 4. Armee (Hoffmeister, Bamler, Vinzenz Müller) nach ihrer Gefangennahme dem Nationalkomitee Freies Deutschland anschlossen und der russischen Rundfunkpropaganda zur Verfügung stellten, erlaubt nicht, die von der Partei gegen die Generalität erhobenen Vorwürfe für begründet zu halten. Die abgeschnittenen Verbände haben, auch unter Führung der Genannten, bis zur äußersten Möglichkeit den Versuch gemacht, sich den Weg nach Westen freizukämpfen. Sie stellten den Widerstand erst ein, nachdem die zunächst improvisierte Luftversorgung hatte eingestellt werden müssen, die Truppe ihren Zusammenhalt und ihre Kampffähigkeit eingebüßt hatte und der Kampf selbst wegen der sich rasch vergrößernden Entfernung der deutschen Front aussichtslos geworden war. Außerdem hätte bei der räumlichen Ausdehnung des Geschehens und der Gleichzeitigkeit seines Ablaufs selbst das eigenmächtige Handeln eines oder mehrerer Einzelner in der Front schwerlich die Entwicklung im ganzen beeinflussen können. Trotzdem war die Vorstellung eines gemeinsamen —defaitistischen” und —probolschewistischen” Verhaltens der Generale nicht unsinnig genug, um nicht von der nationalsozialistischen Propaganda als Kern einer bewußten Š und bis heute nachwirkenden Š Legendenbildung verbreitet zu werden. In Wahrheit trifft die Schuld an der Katastrophe allein die oberste Führung, in erster Linie Hitler selbst. Die Entwicklung war die natürliche und zwangsläufige Folge einer Reihe von Fehlbeurteilungen und Fehlentscheidungen, wobei Hitlers zur Manie gewordenes Festhalten einmal eroberten Geländes auch in diesem Falle von letzten Endes ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Noch zu einem Zeitpunkt, als das Mißverhältnis der Kräfte klar erkennbar war und sich der an mehreren Stellen gleichzeitig erfolgte russische Durchbruch nicht mehr aufhalten ließ, zwang Hitlers Starrsinn die deutschen Armeen und Divisionen, den Kampf in den bereits unhaltbar gewordenen Stellungen fortzusetzen, und verhinderte die Einleitung rechtzeitiger Umgruppierungen und Rückzugsoperationen. Dadurch gab er das Schicksal von Hunderttausenden deutscher Soldaten der Willkür des Feindes preis. Dieses Urteil stützt sich auf die nachstehend abgedruckte Darstellung der Ereignisse, auch wenn die Umstände, unter denen sie geschrieben wurde, es nicht gestatteten, in solcher Schärfe zu formulieren. Es handelt sich um einen zusammenfassenden Bericht über den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, den der

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Zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 319 Verfasser als Sachbearbeiter für das Kriegstagebuch in der Führungsabteilung des Stabes der Heeresgruppe im Hauptquartier in Ortelsburg Mitte August 1944 angefertigt hat. Dem Verfasser standen außer dem von ihm selbst geführten Kriegstagebuch mit allen in Frage kommenden Unterlagen auch die Auskünfte des Chefs des Stabes Generalleutnant Krebs und des Ia Oberst i. G. von der Groeben zur Verfügung. Die Niederschrift wurde in der vorliegenden Form von beiden gebilligt Š mit einer einzigen Änderung, auf die im Text verwiesen wird. Das Original ist als Beilage zum Kriegstagebuch mit diesem und den übrigen Führungsakten der Heeresgruppe kurz vor Kriegsende vernichtet worden.1 Eine Abschrift wurde, soweit der Verfasser sich erinnern kann, zusammen mit anderen Unterlagen einem Gerichtsoffizier des Reichskriegsgerichts ausgehändigt, der zu dieser Zeit in Ortels-burg erschien, um Material für die erwähnte, von Hitler befohlene kriegsgerichtliche Untersuchung zu sammeln; über den Ausgang dieser Untersuchung konnte später nichts mehr in Erfahrung gebracht werden. Der nachstehende Abdruck des Dokumentes folgt dem in Maschinenschrift vorliegenden Entwurf, der im Besitz des Verfassers erhalten geblieben ist. Auf eine Auflösung der Abkürzungen wird verzichtet, weil deren Bedeutung sich aus dem Zusammenhang ergibt. Auch erübrigt sich eine ins einzelne gehende Kommentierung.2 Die beigefügten Skizzen sollen nur der allgemeinen Orientierung dienen; deshalb sind auch nicht alle im Text vorkommenden Ortsbezeichnungen eingetragen. Hermann Gackenholz I. Im Winter 1943/44 war es der H. Gr. Mitte gelungen, in einer Reihe schwerer Abwehrschlachten die gegen ihre Ostfront gerichteten Feindangriffe abzuschlagen. Diese erfolgreiche Kampfführung war dadurch ermöglicht worden, daß unter rücksichtsloser Entblößung der nicht bedrohten Frontabschnitte Reserven gebildet und vorausschauend an die Feindschwerpunkte verschoben wurden3. Die Endphase der Winterkämpfe war beherrscht durch die Entwicklung der Lage im Raum KowelŠBrest, wie sie sich aus dem russ. Vorgehen in der breiten Lücke zwischen den Heeresgruppen Nordukraine und Mitte ergeben hatte. Die lebensgefährliche Bedrohung der tiefen Südwestflanke der Heeresgruppe in Richtung Brest und die der Heeresgruppe übertragene Aufgabe, den Festen Platz Kowel zu entsetzen, führten zur Bildung eines starken Kräfteschwerpunktes im Raum BrestŠKowel. Unter weitgehender Schwächung der Ostfront der. Heeresgruppe wurden von den damals verfügbaren 45 Divisionen unter dem LVI. Pz. K. 8 große Verbände, dabei 2 Panzer-Div., in diesem Raum vereinigt. Ihrem rechtzeitigen Eingreifen war es 1 Vgl. B. Poll, Vom Schicksal der deutschen Heeresakten und der amtlichen Kriegsge-schichtsschreibung. In: Die Welt als Geschichte. 1952, S. 67. 2 Für den Gesamtverlauf der Operationen an der Ostfront 1944 sei auf K. von Tippelskirch, Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Bonn 1951, S. 527 ff., sowie auf H. Teske, Die silbernen Spiegel. Heidelberg 1952, S. 208 ff. hingewiesen. 3 Dieses Urteil stellt allerdings nicht genügend in Rechnung, daß in den Kämpfen des Winters 1943/44 der eigentliche Schwerpunkt der russischen Offensiven in der Ukraine, zuletzt auch bei Leningrad gelegen hatte.

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320 Dokumentation zu verdanken, daß der russ. Vormarsch auf Brest zum Stehen gebracht wurde, daß die Entsetzung von Kowel gelang* und daß nach Herstellung der Verbindung zur H. Gr. Nordukraine an der Turja eine feste Front gebildet wurde5. Das Feindbild zeigte auch nach Abschluß der Kämpfe im Raum südwestlich Kowel (Ende April) in der nächsten Folgezeit eine besondere Schwerpunktbildung des Feindes vor der H. Gr. Nordukraine und den inneren Flügeln der beiden Heeresgruppen6. Die Heeresleitung nahm Anfang Mai die Bildung einer Reservearmee hinter der H. Gr. Naht in Aussicht; hierzu wurde die Verlegung der letzten noch an der Ostfront der H. Gr. Mitte stehenden 20. Pz. Div. z. V. OKH zuerst nach Brest, dann am 20. 5. nach Cholm befohlen. Die Bildung der Reservearmee kam nicht zustande. Dagegen wurde auf Grund eines Vorschlages des damaligen OB. der H. Gr. Nordukraine, G. F. M. Model, die Lage im Raum südlich Kowel durch einen Angriffsschlag zu bereinigen, am 29. 5. die Unterstellung des LVI. Pz. K. unter die H. Gr. Nordukraine befohlen. Mit dieser Abgabe trat für die H. Gr. Mitte ein entscheidender Kräfteentzug ein (fast sämtliche Panzer, bis zu 1/3 der Heerestruppen einschl. Sturmgesch.-Brigaden). Die Heeresgruppe erklärte deshalb auch sofort, daß ihr damit die Möglichkeit genommen wäre, nach dem in den Winterkämpfen bewährten Verfahren durch rechtzeitiges Verschieben von Kräften einer feindlichen Schwerpunktbildung an anderer Stelle der H. Gr.-Front vorzuhalten. Von seiten des OKH wurde demgegenüber wiederholt, zuletzt durch den Chef GenStdH7 am 31. 5., versichert, daß es sich nur um eine —vorübergehende” Maßnahme handeln sollte. Die Heeresgruppe glaubte sich zu diesem Zeitpunkt mit dieser —vorübergehenden Maßnahme” abfinden zu können, als mit Ausnahme des Raumes von Kowel starke Feindschwerpunkte nicht erkennbar waren. In der Feindbeurteilung vom 4. 6. wurde jedoch darauf hingewiesen, daß die örtlichen Kräftezusammenziehungen vor der Ostfront jederzeit durch die Verschiebung der namhaften Feindreserven vermehrt werden könnten. Es müsse damit gerechnet werden, daß der Feind sein Verfahren des Winters fortsetzen und an zahlreichen Stellen der Ostfront Angriffe mit wechselndem Schwerpunkt zu dem Zweck der Fesselung der deutschen Kräfte führen würde. Diese Beurteilung der Feindabsichten erfuhr im Laufe des Juni eine grundlegende Änderung: auf Grund der von der Luftaufklärung erfassten starken Zuführungen aus der Tiefe besonders vor der Front der 9. Armee, aber auch im Bereich der Autobahn und südostwärts Witebsk, sowie des Einschiebens der 33. Garde-Armee bei Rjassna, der 11. Garde-Armee an der Autobahn und des V. Gde. Schtz. K. an der Suchodrowka-Front und schließlich einer Meldung über die Anwesenheit der 5. Gde. Pz. Armee im Raum von Smolensk mußte nunmehr über das Ziel von Fesselungsangriffen hinaus mit erheblich weiterreichenden Operationsabsichten der russischen Führung gerechnet werden. Auch die schlagartige Vermehrung der russischen Luftwaffe vor der Front der H. Gr. auf etwa 4500 Flugzeuge ließ erkennen, daß der Feind durch gleichzeitige starke Angriffe auf Bobruisk, Mogilew, Orscha und möglicherweise nordwestlich Witebsk den weit nach Osten vorspringenden Bogen zum Einsturz zu bringen beabsichtigte. Allerdings wurde nach dem erkannten Kräftebild noch nicht auf ein so weitgestecktes operatives Ziel wie Minsk geschlossen (Feindbeurteilung vom 19. 6.). Diese Feindbeurteilung unterschied sich nicht unerheblich von den Auffassungen, wie sie an höherer Stelle vertreten wurden. Bei der Besprechung der 4 4. April 1944. 5 27. April 1944. 6 Die Russen haben zur Täuschung einen gro0en Eisenbahnaufmarsch mit Leerzügen in dieses Gebiet gefahren, vgl. Teske a. a. O., S. 210 7 Generaloberst Zeitzier.

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Zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 321 H. Gr.- u. Armeechefs im OKH am 14. 6. wurde durch den Chef Gen. St. und den Chef Op. Abt.8 zum Ausdruck gebracht, daß die Hauptoperation des Feindes nach wie vor bei der H. Gr. Nordukraine zu erwarten sei, wo nunmehr —zum ersten Mal Schwerpunkt gegen Schwerpunkt” stände, und daß den Angriffen gegen die H. Gr. Südukraine und Mitte nur der Charakter von Einleitungs- bzw. Nebenoperationen zukäme. Noch am 20. 6. erklärte G. F. M. Keitel in einem Vortrag über die Gesamtlage auf der NSFO-Tagung in Sonthofen, daß der Russe erst angreifen würde, wenn die Westmächte in Frankreich größere Erfolge errungen hätten; der Schwerpunkt wäre dann im Süden der Ostfront zu erwarten und nicht bei der H. Gr. Mitte. Die Heeresgruppe Mitte9 stand mit den ihr nach Abgabe des LVI. Pz. Korps verbliebenen 38 Divisionen in dem weit gespannten, rund 1100 km langen Bogen ihrer Front in dünner Aufstellung. Eine Zuführung von neuen Kräften erfolgte nur in -beschränktem Umfange: außer der in der Auffrischung befindlichen nicht einsatzbereiten Pz. Gren. Div. —Feldherrnhalle”, die in den Raum Mogilew verlegt worden war, wurde nur die 20. Pz. Div. nach Bobruisk hinter die besonders bedrohte Front der 9. Armee herangezogen. Eine Verlegung der 24. Div. nach Orscha, die in Aussicht genommen worden war, unterblieb schließlich. So standen der Heeresgruppe zu Beginn der Schlacht nur folgende Reserven zur Verfügung: bei 2. Armee die in der Aufstellung begriffene 4. Kav. Brig. und die 1. ung. Kav. Div.; bei 9. Armee die 20. Pz. Div. und die schwache 707. Div.; bei 4. Armee die nicht einsatzbereite Pz. Gren. Div. —Feldherrnhalle” und die 14. Div.: bei 3. Pz. Armee die 95. Div. Mit allen Mitteln wurde versucht, durch das Ausscheiden örtlicher Reserven, besonders bei 9. und 4. Armee, die Abwehrkraft für die erwarteten Großangriffe zu erhöhen; aber auch diese Maßnahme fand ihre Grenze in der damit zwangsmäßig verbundenen weiteren Verdünnung der Frontbesetzung. Besonders erschwerend für die weitere Kampfführung aber mußte sich auswirken, daß die Feindangriffe an den erkannten Schwerpunkten voraussichtlich gleichzeitig erfolgen würden; dadurch war die Möglichkeit eines weiträumigen Verschiebens von Reserven von vornherein so gut wie ausgeschlossen. Mit einer Änderung des Kampfauftrages konnte die Heeresgruppe trotz dieser, gegenüber dem Winter entscheidend veränderten Gesamtlage nicht rechnen. Die von der Heeresgruppe wiederholt gestellten Anträge, durch eine begrenzte Zurücknahme der 4. Armee hinter den Dnjepr wenigstens den kräftezehrenden, nach Osten vorspringenden Frontbogen zu verkürzen, waren abgelehnt worden. Der Führer hatte es vielmehr dem O. B. der Heeresgruppe bei seinem Vortrag am 20. 5. ausdrücklich zur Pflicht gemacht, die an der Ostfront eingenommene Linie unter allen Umständen zu halten, und gefordert, daß unter Zurückstellung aller Bauvorhaben in rückwärtigen Linien die vorderste Stellung mit allen Mitteln auszubauen und zu verstärken wäre. G. F. M. Busch befahl daher am 24. 5. den Armeeführern, die Arbeiten in der Beresina-Linie, die von der H. Gr. aus eigenem Entschluß eingeleitet worden waren, 8 Generalleutnant Heusinger. 9 Gliederung der H. Gr. Mitte am 22. Juni 1944: (O.B. G.F.M. Busch; Chef d. Gen.St. Gen.Ltn. Krebs; Ia Oberst i. G. von der Groeben) Š 2. Armee (O.B. Gen.Ob. Weiß; Chef Gen.Maj. von Tresckow), VIII. A.K. (Gen. d. Inf. Höhne), XX. A.K. (Gen. d. Art. Frhr. von Roman), XXIII. A.K. (Gen. d. Pi. Tiemann) Š 9. Armee (O.B. Gen. d. Inf. Jordan; Chef Gen.Maj. Staedtke), LV. A.K. (Gen. d. Inf. Herrlein), XXXXI. Pz.K. (Gen. d. Art. Weidling), XXXV. A.K. (Gen. d. Inf. Wiese), Š 4. Armee (Stellvertr. O.B. Gen. d. Inf. von Tippelskirch; Chef Oberst i. G. Dethleffsen), XII. A.K. (i. V. Gen. Lt. Vinzenz Müller), XXXIX. Pz.K. (Gen. d. Art. Martinek), XXVII. A.K. (Gen. d. Inf. Völkers), Š 3. Pz. Armee (O.B. Gen. Ob. Reinhardt; Chef Gen.Maj. Heidkämper), VI. A.K. (Gen. d. Art. Pfeiffer), LUX A.K. (Gen. d. Inf. Gollwitzer), IX. A.K. (Gen. d. Art. Wuthmann)

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322 Dokumentation einzustellen und alle Baukräfte in der vorderen Linie zu verwenden. Eine besondere Erschwerung der Kampfführung im Rahmen des gegebenen Auftrages lag für die Heeresgruppe in der großen Zahl der in Frontnähe befindlichen Festen Plätze. Bereits bei der Bestimmung der Festen Plätze und der für sie vorgesehenen Besatzungen (Witebsk 3 Div., Orscha, Mogilew und Bobruisk je 1 Div.) war von der H. Gr. darauf aufmerksam gemacht worden, daß sich aus dem Festlegen so namhafter Kräfte für die Festen Plätze schwerwiegende Folgen für die Führung des Kampfes im freien Felde ergeben würden. Bei der an sich schon geringen Zahl der noch vorhandenen Verbände mußte bei einem Ausscheiden dieser 6 Divisionen die Gefahr entstehen, daß der Zusammenhalt der Front zerriß. Dies galt in besonderem Maße für die Front der 3. Pz. Armee, wo, wie von dem O. B. dieser Armee wiederholt besonders hervorgehoben worden war, jede auch nur begrenzte Ausweichbewegung nach Abgabe der 3 für Witebsk bestimmten Verbände zum Aufreißen einer Frontlücke führen würde, die ohne Zuführung entsprechender Kräfte nicht geschlossen werden könnte10. Ähnliche Folgen mußten, wenn auch nicht in diesem Umfange, bei den anderen Festen Plätzen eintreten, wenn sie in die Kampflinie einbezogen wurden, was bei der 4. Armee im Zuge einer Bewegung auf die Dnjepr-Stellung der Fall sein würde. Die Kampfführung der H. Gr. Mitte war damit Š zusammenfassend betrachtet Š von vornherein durch folgende Faktoren erheblich belastet: 1. Ungünstiges Verhältnis der vorhandenen Kräfte zur Frontlänge (40 Verbände auf 1100 km) mit der Folge einer zu dünnen Besetzung der Stellungen; 2. Ungenügende operative Reserven, dabei nur 1 Pz. Div.; 3. Voraussichtliche Festlegung einer Anzahl der vorhandenen Divisionen als Besatzungen für die in Frontnähe liegenden Festen Plätze; 4. Absolute Unterlegenheit im Luftwaffeneinsatz; 5. Trotzdem feste Bindung an den Kampfauftrag einer Verteidigung der bisherigen Stellungen. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß es sich hierbei nicht um eine nachträgliche Feststellung handelt, sondern daß die H. Gr. rechtzeitig und wiederholt auf das im Hinblick auf die veränderte Feindlage und die weitergehenden operativen Ziele der russischen Führung entstandene Mißverhältnis zwischen dem der H. Gr. gegebenen Auftrag und den dafür zur Verfügung gestellten Mitteln hingewiesen hat. Diese Bedenken wurden von der obersten Führung mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Gesamtlage an der Ostfront weder eine Änderung des Kampfauftrages noch eine andere Kräfteverteilung gestattete. Die H. Gr. nahm die Schlacht in der festen Zuversicht an, daß es dem in den schweren Winterschlachten bewährten Kampfverfahren und der Standfestigkeit des deutschen Grenadiers gelingen würde, den Ansturm des Feindes erneut zum Stehen zu bringen. Sie verband damit die Hoffnung, daß ihr von der Heeresleitung für die Kampfführung eine gewisse Freiheit gegeben würde, wenn es die Verhältnisse erzwingen sollten. Es soll nicht verschwiegen werden, daß sich die deutsche Führung, auch die der H. Gr. Mitte, sowohl hinsichtlich der Durchschlagskraft der russischen, gegen die H. Gr. Mitte gerichteten Operationen als auch ihrer weitgesteckten Zielsetzung11 im berechtigten Vertrauen auf die oft gezeigte Stärke der eigenen Abwehr einer gewissen Unterschätzung hingegeben hat. 10 Über die Lage der 3. Pz.Armee, deren Belastung durch den Festen Platz Witebsk und den Verlauf der Kämpfe bis zum 29. Juni 1944 vgl. jetzt O. Heidkämper. Witebsk. Kampf und Untergang der 3. Pz.Armee. Heidelberg 1954. S. 124 ff. 11 Von hier an in der ursprünglichen Fassung nur: —einer Täuschung und Unterschätzung hingegeben hat”. Die Änderung erfolgte auf Wunsch des Ia der H.Gr.

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324 Dokumentation bereite Jäger. Die Pz.-Verbände wurden vom Feind solange zurückgehalten, bis durch den infanteristischen Angriff tiefe Breschen in die deutsche Front geschlagen waren; dann aber traten sie massiert, wendig geführt und mit weitreichenden Operationszielen angesetzt in Erscheinung. Am ersten Tage der Schlacht (22. 6.) ergaben sich bereits erhebliche Spannungen bei der 3. Pz. Armee. Der Feind erzielte südostwärts Witebsk tiefe Einbrüche in die Front des VI. A. K., zu dessen Abriegelung die Masse der 95. Div. freigegeben wurde. Nordwestlich Witebsk wurde die weit gespannte Front des IX. A. K. beiderseits des Obol aufgerissen. Hier standen außer einer Rgt.-Gruppe der 95. Div. keine Reserven zur Verfügung. Auf Antrag der Heeresgruppe stellte das OKH die bei Polozk liegende 24. Div. zur Verfügung, die über Obol herangeführt wurde. Die an diesem Tage gegen die Front der 4. Armee geführten Vorangriffe wurden abgewiesen. Bei der 9. Armee verhielt sich der Feind noch ruhig. Der 23. 6. brachte die Ausweitung der Großoffensive auf die Front der 4. Armee, während bei der 9. Armee die russischen Vorangriffe einsetzten. Der Feind erzielte bei der 4. Armee Einbrüche an den erkannten Schwerpunkten beiderseits der Straße RjassnaŠMogilew und nördlich der Autobahn, die abgeriegelt werden konnten. Ostwärts Mogilew wurde die Pz. Gren. Div. —Feldherrnhalle” zur Besetzung der Dnjepr-Schutzstellung freigegeben; nördlich der Autobahn erfolgte der Einsatz eines Rgt. der 14. Div. Die Masse dieser Div. wurde von Orscha nach Norden an den rechten Flügel der 3. Pz. Armee herangezogen, wo die Lage beiderseits Witebsk eine erhebliche Zuspitzung erfuhr. Der Russe erweiterte sowohl südostw. Witebsk über die Lutschessa nach Westen als auch nordwestlich der Stadt über Sirotino seine Einbrüche des Vortages zum Durchbruch und gewann operative Bewegungsfreiheit. Da der Feind mit den inneren Flügeln eindrehte, zeichnete sich die Einschließung der um Witebsk stehenden Verbände des LOT. A. K. bereits ab. Das OKH genehmigte die Zurücknahme der Front auf die Stadtrandstellung von Witebsk; eine dabei freiwerdende Division wurde angesetzt, um durch Angriff nach Südwesten die Verbindungsstraße über Ostrowno offenzuhalten. Von der H. Gr. Nord wurde wegen der Sorge um die rechte Flanke die 290. Div. ebenfalls über Polozk in Marsch gesetzt. Am frühen Morgen des 24. 6. fand im H. Qu. H. Gr. in Minsk eine Besprechung mit dem Chef Gen. St. d. H. statt, in der G. F. M. Busch aus der Entwicklung der Lage die Folgerung zog, daß mit den bisherigen Kräften der bisherige Auftrag der Heeresgruppe besonders im Raum Witebsk nicht mehr durchführbar wäre. Bei dem Mangel an Reserven sei die Lage der 3. Pz. Armee nicht wiederherzustellen. Er beantragte daher als einzigen Ausweg die Zurücknahme der 3. Pz. Armee auf die Tigerstellung12 unter Aufgabe von Witebsk und die Zuführung von mindestens 2 Divisionen, davon 1 Pz. Div. Die Lage der 3. Pz. Armee im Raum Witebsk verschärfte sich an diesem Tage zur Krise: der von Osten über die Lutschessa durchgebrochene Feind unterbrach nach Nordwesten ausholend bei Ostrowno die rückwärtigen Verbindungen des LIII. A. K. und warf gleichzeitig die inneren Flügel des VI. und IX. A. K. weiter zurück, so daß zwischen ihnen eine Lücke von 40 km aufriß. Trotzdem wurde der von G. F. M. Busch am Nachmittag in einem Ferngespräch mit dem Führer wiederholte Antrag, Witebsk aufzugeben, ausdrücklich abgelehnt. Der Führer befahl, daß Witebsk als Fester Platz von der Besatzung in Stärke einer Division verteidigt werden müsse13. Das LIII. A. K. erhielt daraufhin den Befehl, unter Belassung der 206. Div. im Festen Platz nach Südwesten durchzubrechen. Der Forderung auf Zuführung von Reserven wurde mit der vom OKH befohlenen Heran-12 Eine vorbereitete Sehnenstellung südwestlich Witebsk. 13 Nach dem K.T.B. der H.Gr. begründete Hitler seinen Befehl, Witebsk tinter allen Umständen zu halten, mit —politischen Gründen (drohender Abfall Finnlands!).”

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Zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 325 führung der 212. Division und 5. Pz. Div. entsprochen. Bei der Fortsetzung seiner Angriffe gegen die Front der 4. Armee erzielte der Feind eine Ausweitung des Einbruchs ostwärts Mogilew, wo er bis an die Dnjepr-Schutzstellung durchstieß. An der Autobahn konnte der russische Ansturm im allgemeinen aufgefangen werden, doch mußte der linke Flügel der Armee im Anschluß an den rechten Flügel der 3. Pz. Armee in die Orechi-Seen-Linie zurückgebogen werden. Ein Antrag der 4. Armee, die nicht angegriffenen Frontabschnitte auf die Dnjepr-Schutzstellung zurückzunehmen, um durch Geradelegen der Front neue Reserven zu bilden, wurde von der obersten Führung abgelehnt; die 4. Armee erhielt daher den Befehl, beim XII. A. R. und auf dem Nordflügel des XXXIX. Pz. Korps in den bisherigen Stellungen stehenzubleiben. An der Front der 9. Armee brachte der hier mit voller Wucht beginnende Großangriff dem Feind Erfolge beim XXXXI. Pz. Korps, wo er seinen Einbruch über Rakowitschi durch sofortiges Nachführen starker Panzerkräfte gegen die Bahn Bo-bruiskŠRatmirowitschi vertiefte, ohne daß die geringen örtlichen Reserven ihn zum Stehen zu bringen vermochten. Nördlich Rogatschew gewann der Feind auf dem Westufer des Drut an Boden, wurde aber abgeriegelt. Gegen einen dritten Einbruch an der Naht zur 4. Armee in das Waldgebiet bei Chomitschi wurde die dort als Reserve verfügbare 707. Div. zum Einsatz gebracht. Über die Verwendung der 20. Pz. Div. fiel an diesem Tage erst spät eine Entscheidung. A. O. K. 9, das die größere Gefahr nördlich Rogatschew sehen zu müssen glaubte, hielt bis zum Nachmittag einen Einsatz auf dem Nordflügel für notwendig und leitete entsprechende Bewegungen ein. Erst abends entschloß sich A. O. K. 9 wegen der Verschärfung der Lage beim XXXXI. Pz. Korps die Division über Paritschi zum Gegenangriff nach Süden anzusetzen. Durch diese Umgruppierungen ging wertvolle Zeit verloren14. Bereits die am Morgen des 25. 6. eingehenden Meldungen zeigten, daß sich durch weitere durchschlagende Feinderfolge auf den beiden Flügeln die Gesamtlage der Heeresgruppe in überaus gefährlicher Weise verschlimmerte. Der bei der 9. Armee südlich der Beresina durchgebrochene Feind erreichte die Bahnlinie südlich Bobruisk und schob starke Kräfte in die geschlagene Bresche nach. Noch stand hier das Eingreifen der 20. Pz. Div. zu erwarten, wenn sich auch die Division ihren Aufmarschraum bereits freikämpfen mußte und frühestens am Nachmittag antreten konnte; trotzdem wurde von der Heeresgruppe an dem Angriff in die Flanke des durchgebrochenen Feindes festgehalten. Außerdem wurde die neue Abwehrfront des VI. A. K. bei Boguschewskoje zum Einsturz gebracht und gegen die Autobahn westlich Orscha geworfen. Der Feind gewann hier Bewegungsfreiheit nach Süden und Westen. Die sich damit abzeichnende Gefahr einer Umfassung der Masse der 9. Armee und der ganzen 4. Armee veranlaßte die Heeresgruppe in einer am Morgen abgegebenen Lagebeurteilung zu folgenden Anträgen: Zurücknahme der 4. Armee in die Dnjepr-Schutzstellung, um Reserven für den bedrohten linken Flügel freizumachen; Aufgabe von Witebsk und Durchkämpfen auch der 206. Div.; Zuführung von je einer weiteren Div. auf Sluzk, Minsk und Parafjanowo. Da auch diese Maßnahmen voraussichtlich nicht ausreichen würden, um die Lage völlig wiederherzustellen, müsse der Kampfauftrag für die Heeresgruppe so geändert werden, daß unter Anschlußhalten an die Nachbarn durch weitere begrenzte Zurücknahme des nach Osten vorspringenden Bogens die Vernichtung zahlreicher eigener Verbände verhindert wird. Der Führer genehmigte beim Mittagsvortrag die Zurücknahme nur der südlich Mogilew stehenden Teile der 4. Armee in die Dnjepr-Schutzstellung; die Aufgabe von Witebsk wurde dagegen abgelehnt. 14 Der O.B. der 9. Armee Gen. d. Inf. Jordan, wurde deswegen von Hitler abgelöst. An seine Stelle trat Gen. d. Inf. von Vormann. Vierteljahrshefte 3/7*

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326 Dokumentation Der Verlauf der Kämpfe am 25. 6. entsprach nur zu sehr den in der Lagebeurteilung am Morgen ausgesprochenen Befürchtungen: Bei der 9. Armee brachte der gegen starke russische Panzerkräfte rasch festlaufende Angriff der 20. Pz. Div. nicht die erhoffte Entlastung. Der Feind setzte vielmehr westlich der Bahn seinen Vormarsch nach Westen und Nordwesten fort und bedrohte die von Bobruisk nach Westen führenden Straßen. Auf dem Nordflügel der Armee konnte unter Einsatz der letzten Reserven eine größere Ausweitung des Einbruchs nördlich Rogatschew verhindert werden. Dagegen blieb an der Naht zur 4. Armee die Lage unklar; das Schließen der Lücke durch die 707. Div. gelang nicht. Ein von der 9. Armee auf Grund dieser Lage gestellter Antrag, mit der Armee auf den erweiterten Brückenkopf von Bu-bruisk zurückzugehen, wurde von G. F. M. Busch unter Hinweis auf den für die Heeresgruppe noch unveränderten Kampfauftrag abgelehnt. An der Front der 4. Armee konnte der Feind seine Einbrüche weiter vertiefen; beim XXXIX. Pz. Korps durchbrach er die Dnjepr-Schutzstellung ostwärts Mogilew und befand sich im Vorgehen auf Mogilew und Schkloff. Nördlich der Autobahn wurde die Orscha-Brücken-kopfstellung bei Orechi durchstoßen; der Feind drang hier bis über die PK-Straße vor. Das VI. A. K. brach völlig zusammen, so daß sich der Feind über Smoljany der Autobahn nähern konnte. In der im Raum südlich Witebsk aufgerissenen Lücke nutzte der Feind die Bewegungsfreiheit und setzte seine schnellen Verbände über Senno zum Vorstoß in die tiefe Flanke der 4. Armee an. Bei der 3. Pz. Armee gestaltete sich bereits an diesem Tage die Lage der um Witebsk abgeschlossenen Verbände des LIII. A. K. aussichtslos, nachdem ein nach Südwesten über Ostrowno unternommener Durchbruchsversuch an überlegener Feindabwehr gescheitert war. Außerdem wurde der bisher noch an Düna bei Beschenkowitschi haltende rechte Flügel des IX. A. K. auf Botscheikowo zurückgeworfen. Auf nochmalige dringende Vorstellungen von G. F. M. Busch bei Generaloberst Zeitzier, den von der Heeresgruppe gestellten Anträgen zu entsprechen, entschied der Führer beim Abendvortrag, daß das (inzwischen auf eigenen Entschluß des OB der 4. Armee eingeleitete) Absetzen der 4. Armee auf die Dnjepr-Schutzstellung durchgeführt werden kann; für Witebsk habe es bei den gegebenen Befehlen zu verbleiben (—die 206. Div. hält Witebsk bis zur Entsetzung”). Ferner wurde die Zuführung der 12. Pz. Div. über Molodeczno befohlen. Am 26. 6. zeichnete sich in rascher Entwicklung die Gefahr einer doppelseitigen Umfassung der Mitte der Heeresgruppe immer mehr ab; von Süden durch das nunmehr ungehinderte Vorgehen starker russischer mot. und Panzerverbände auf Bobruisk und die nach Westen laufenden Lebensadern der 9. Armee, von Nordosten durch die zwischen der 4. Armee und 3. Pz. Armee klaffende breite Lücke über die Autobahn in die tiefe Flanke der 4. Armee. Die 9. Armee stellte den Angriff der 20. Pz. Div. ein und versuchte durch Herumwerfen der Division über Bobruisk der sich westlich der Stadt entwickelnden Gefahr zu begegnen. An der Ostfront der 9. Armee mußte vor dem anhaltenden Druck des weit überlegenen Feindes auch die Dubissalinie aufgegeben werden. Durch Vorstoß an die Straße BobruiskŠMogilew gelangte der Feind in die Nordflanke der Armee und unterbrach endgültig die Verbindung zur 4. Armee. Bei der 4. Armee überschritt der Feind nördlich Mogilew den Dnjepr; die zahlreichen Durchbrüche erzwangen das weitere Ausweichen der Armee hinter den Dnjepr. Orscha wurde gegen von Osten, Norden und Westen vorgetragene Feindangriffe behauptet. In der Lücke zur 3. Pz. Armee gingen die schnellen Verbände des Feindes in breiter Front nach Südwesten und Westen vor und überschritten bei Tolotschin die Autobahn. Eine schwache Sicherung übernahm an der Autobahn den Schutz der in Borissow ausladenden 5. Pz. Div. Auch die aus zusammengerafften Sicherungskräften aufgebaute Abwehrlinie der 3. Pz. Armee von Lukoml zur Düna zerbrach vor dem Stoß der auf Botscheikowo aufschließenden und über die Düna

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Zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 327 nach Westen vorstoßenden Feindkräfte. Das LIII. A. K. unternahm einen zweiten Ausbruchsversuch und gewann etwas Boden nach Südwesten. Auf den von G. F. M. Busch am Abend des 26. 6. im Führerhauptquartier gehaltenen Vortrag über die Lage der Heeresgruppe erklärte sich der Führer mit der Zurücknahme der 9. Armee in die Brückenkopfstellung Bobruisk und einem schrittweisen Absetzen der 4. Armee in die Beresinalinie einverstanden, forderte aber ein Festhalten der Festen Plätze Mogilew und Orscha. Der Befehl an die 9. Armee zum Zurückkämpfen auf die Brückenkopfstellung von Bobruisk und zum Schließen der Lücke süd-ostw. Bobruisk wurde noch in der Nacht 26./27. 6. gegeben. Die vom Chef AOK. 9 bei seinem Besuch am Morgen des 27. 6. im H. Qu. H. Gr. angemeldete Absicht, mit der vor der Einschließung stehenden Masse der 9. Armee nach Nordwesten durchzubrechen, wurde unter Hinweis auf den Befehl der Heeresleitung, Bobruisk als Eckpfeiler der Beresina-Linie zu halten, verboten; die Armee habe durch Einsatz der 20. Pz. Div. die rückwärtigen Verbindungen wieder freizukämpfen. Die 4. Armee erhielt am Vormittag des 27. 6. durch einen entsandten Offizier den Befehl, am 27. 6. am Dnjepr zu halten und bei erzwungener Aufgabe der Dnjepr-Stellung unter weiterem Behaupten der Festen Plätze Mogilew und Orscha auf den Drut-Abschnitt auszuweichen. Die Lage entwickelte sich am 27. 6. bei der 9. Armee zur Krise. Der Feind legte sich nicht nur westlich Bobruisk auf die nach Westen und Nordwesten führenden Straßen, sondern stieß auch von Nordosten im Zuge der Straße nach Mogilew mit starken Panzerkräften auf Bobruisk durch und sperrte die Brücken, so daß den auf dem Ostufer der Beresina zusammengedrängten Verbänden des XXXXI. Pz. K. und XXXV. A. K. der Übergang verlegt wurde. Damit wurde sogar das von A. O. K. 9 beabsichtigte geschlossene Herauskämpfen dieser Divisionen in Frage gestellt. Die in den Raum westlich Bobruisk aufschließenden russischen mot. Verbände stießen mit ihren Spitzen nach Westen bis Now Dorogi und nach Nordwesten bis Ossipowi-tschi vor. In Marina Gorka begannen die Ausladungen der 12. Pz. Div. Die 4. Armee verteidigte auf dem Südflügel bis einschließlich Mogilew die Dnjepr-Stellung; sie wurde nunmehr auch durch den Vorstoß des Feindes über die Straße MogilewŠ Bobruisk in der tiefen Südflanke bedroht. Auf dem Nordflügel überschritt der Feind auf breiter Front bereits den Dnjepr; der Feste Platz Orscha ging durch Angriff von allen Seiten verloren. Das XXVII. A. K. kämpfte sich durch die sich ihm bereits von Norden und Westen vorlegenden Feindkräfte den Weg nach Westen frei. Den im Zuge der Autobahn nach Westen vorstoßenden feindlichen schnellen Verbänden wurde durch die Sicherungsfront bei Borissow ein vorläufiger Halt geboten. Die dünne Ab-riegelungsfront der auf dem rechten Flügel der 3. Pz. Armee zusammengefaßten Sicherungsverbände wurde auch an diesem Tage erneut durchbrochen und nach Westen zurückgeworfen. Der Armee wurde die im Raum Lepel eintreffende 212. Div. zugeführt. Die Entfernung zum LIII. A. K. hatte sich inzwischen auf 80 km erweitert, so daß mit einem Herauskämpfen dieser fünf Divisionen nicht mehr gerechnet werden konnte. Auf Grund dieser Gesamtlage gab die Heeresgruppe am Nachmittag des 27. 6. eine Weisung für die weitere Kampfführung, in der für die 2. Armee die Unterstellung und Rückführung des abgeschlagenen Südflügels der 9. Armee an den Oressa-Abschnitt, für die 9. Armee das Zurückkämpfen auf die Linie Star. DorogiŠOssipo-witschi unter Belassen einer Div. im Festen Platz Bobruisk, für die 4. Armee das abschnittsweise Absetzen auf die Beresina-Linie unter Halten des Festen Platzes Mogilew befohlen wurde. Ein am 27. 6. über den Chef GenStdH gemachter Vorstoß von G. F. M. Busch, beim Führer das Auflassen der Festen Plätze Bobruisk, Mogilew und Orscha zu erreichen, war wiederum ergebnislos geblieben. In der Nacht 27./28.

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