by S Grimm · Cited by 4 — Verpflichten Menschenrechte zur. Demokratie? Über universelle Menschenrechte, politische Teilhabe und demokratische Herrschaftsordnungen. Best.-Nr. SP IV 2004-
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Sonja Grimm Verpflichten Menschenrechte zur Demokratie? Über universelle Menschenrechte, politische Teilhabe und demokratische Herrschaftsordnungen Best.-Nr. SP IV 2004-201 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) Veröffentlichungsreihe der Abteilung Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen des Forschungsschwerpunkts Zivilgesellschaft, Konflikte und Demokratie ISSN 1612-1899 Berlin, November 2004
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Zitierweise:Grimm, Sonja, 2004: Verpflichten Menschenrechte zur Demokratie? Über universelle Menschenrechte, politische Teilhabe und demokratische Herrschaftsordnungen. Discussion Paper SP IV 2004-201. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
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Zusammenfassung Um Menschenwürde und die Freiheit des Individuums zu wahren, muss jedem Menschen die Chance gewährt werden, am Zustandekomme n politischer Entscheidungen zu partizi-pieren. Im transzendentalen Tausch erkennen Individuen gegenseitig an, dass sie ein ratio- nales, wohlüberlegtes Interesse am Zugang zu r politischen Arena, nicht zuletzt am Zugang zu politischen Ämtern haben. Politische Teilhaberechte lassen sich folglich wie die libera- len Abwehrrechte philosophisch begründen und sind als Bürgerrechte zu verwirklichen. Sie gehören damit in den Kanon der Menschenrechte, die, in drei Dimensionen unterteilt (liberale Abwehrrechte, politische Teilhaberech te, soziale Teilhaberechte), notwendig auf- einander verwiesen sind. Dies hat für die Gestaltung politischer Systeme und deren Schutz weit reichende Konsequenzen. Abstract In order to preserve human dignity and the freedom of the individual, every human being must have the chance to participate in political decision-making and to live in a political community. In transcendental exchange, individuals mutually recognize their rational, well-considered interest in access to political o ffices. This allows them to partake in politi- cal decisions irrespective of thei r social position. Thus, political participation rights can be philosophically justified like liberal rights and mu st be realized as civil rights. They belong to the canon of human rights which are analytic ally differentiated in three dimensions (lib- eral rights, political rights, social rights) a nd, therefore, necessarily referring to each other. This has far-reaching consequences for the building and protection of political systems.
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Sonja Grimm Verpflichten Menschenrechte zur Demokratie? Über universelle Menschenrechte, politische Teilhabe und demokratische Herrschaftsordnungen —If all men were angels, no government would be necessary.fl James Madison, in: Federalist Papers, No. 51. 1. Einleitung Menschen- und Bürgerrechte haben in verschiedenen internationalen Dokumenten ihren Niederschlag gefunden: in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte , im Internatio- nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, um die drei wichtigsten zu nennen (Tomuschat 2004). Liberale Abwehrrechte nehm en dabei im Menschenrechtsdiskurs eine zentrale Stellung ein. Ihre Geltung wird kaum jemals angezweifelt und entsprechend uni- versell anerkannt. Umstrittener hingegen sind politische Teilhaberechte sowie soziale und wirtschaftliche Teilhaberechte. Ich werde mich im Folgenden vor allem auf die Begrün- dung der politischen Teilhaberechte konzentrie ren und darlegen, welche Konsequenzen sich daraus für das internationale System im Allgemeinen und für die Ausgestaltung politi- scher Herrschaftsordnungen im Besonderen ergeben. Politische Teilhaberechte als Teilkategorie der Menschenrechte neben den liberalen Abwehrrechten und den sozialen wie wirtschaftlichen Teilhaberechten umfassen mindes- tens zwei Elemente: ein allgemeines, gleich es, freies und faires Wahlrecht sowie die Mög- lichkeit, sich darüber hinaus am politischen Prozess zu beteiligen. Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 greift dies auf: — (1) Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen. (2) Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande. (3) Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine u nd gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wa hlverfahren zum Ausdruck kommenfi (Tomuschat 2004, Art. 21) Robert Dahl lieferte 1971 in seiner häufig zitierten Untersuchung —Polyarchy. Participation and Oppositionfi eine empirische Unters uchung über 21 Demokr atien und formulierte dabei die beiden zentralen Dimensionen sein es schlanken Demokratiebegriffs: —public
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2 contestationfi und —the right to votefi (Dahl 1971: 4). Artikel 21 liest sich wie eine in positives Recht gegossene Demokratiedefinition gemäß dieser beiden Kerndimensionen von Robert Dahl. Offen ist jedoch, zu welchen Maßnahmen die internationale Gemein- schaft durch die Forderung eines individuellen, freien und gleich en Wahlrechts verpflichtet ist. Wie weit muss die internationale Gemein schaft gehen, um dieses Recht umzusetzen? Wie sollte sie sich gegenüber jenen illiberalen Staaten verhalten, die ihren Bürgern ein effektives Wahlrecht verwehren? Welche Mittel sind zur Förderung der Demokratie erlaubt? Darf oder vielmehr muss die internationale Gemeinschaft dafür einen Krieg gegen ein autokratisches Regime führen? Diese Frage drängt sich auf, denkt man an die militärischen Aktionen in Afghanistan (2002) und dem Irak (2004). Liberale Abwehrrechte, die beispielsweise den Schutz vor Folter und staatlicher Willkür beinhalten, werden in besonders schweren Fällen von Menschenrechtsverletzungen wie massenhaften Vertreibungen als —ethnische Säuberungenfi, staatlicher Folter oder Völker- mord von einer Mehrheit der Kommentatoren als legitime Interventi onsgründe akzeptiert, wie die NATO-Intervention im Kosovo 1999 zeigte. Die philosophische Begründung politischer Teil haberechte ist so überzeugend wie die der liberalen Abwehrrechte. Würde man da s Recht auf politische Teilhabe entsprechend ernst nehmen, müsste auch zu seinem Schutz in autokratischen Staaten interveniert werden, die ihren Bürgern grundlegende Partizipationsmög lichkeiten verwehren. Dennoch gibt es starke moralische Bedenken gegen eine solche Vorgehensweise. In der folgenden Analyse werde ich dreierlei zeigen: 1) Politische Teilhaberechte lassen sich wie die liberalen Abwehrrechte philosophisch begründen (Kapitel 2). 2a) Politische Teilhaberechte sind als Bürgerrechte zu verwirklichen. 2b) Sie gehören damit in den Kanon der Menschenrechte, die in den drei Dimensionen —liberale Abwehrrechtefi, —politi- sche Teilhaberechtefi sowie —soziale und wirtschaftliche Teilhaberechtefi notwendig aufeinander verwiesen sind. (Kapitel 3). 3) Menschenrechte müssen als Konstruktionsprin- zipien moderner politischer Herrschaftsordnung en verstanden werden und verpflichten die internationale Gemeinschaft darüber hina us zur konsequenten Um- und Durchsetzung. (Kapitel 4). 1 1 Für hilfreiche Kommentare und kritische Anmerkungen danke ich Wolfgang Merkel, Sascha Kneip, Yasmin Thill, Béatrice Lienemann, Dirk Wippert, Ta nja A. Börzel, den TeilnehmerInnen des Doktoran- den-Kolloquiums von Wolfgang Merkel im WS 2003/2004 an der Universität Heidelberg sowie den KollegInnen der Abteilung DSL am WZB.
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4 (b) zeit- und kontextabh ängig aufgrund größerer Informatio n und/oder aufgrund von Leidens-erfahrung und in Abwägung gegenüber bereits pos tulierter Menschenrechte formuliert werden, (c) sodann universellen Geltungsanspruch erheben und begründet werden können. Die Menschenrechte sind auch dann für alle Individuen universal gültig, wenn positives Recht, das heißt eine politische Ordnung, ihren Schutz nicht sichert oder sie sogar bewusst verletzt. 2.2 Der transzendentale Tausch als Begründungsstrategie Die vom kulturellen Relativismus aufgeworfe nen Vorwürfe gegenüber einer universellen Menschenrechtskonzeption (vgl. Brown 1999; Dicke 1997; Pannikar 1996) verweisen auf die Notwendigkeit einer Begründung von Menschenrechten. Als sinnvolle Strategie bietet es sich an, auf die Idee der Menschenwürde und auf die Gedankenfigur des transzen- dentalen Tauschs nach Otfried Höffe im An schluss an Immanuel Kant zurückzugreifen. 2Jene Autoren, welche die Menschenrechte unter Zuhilfenahme des Menschenwürde- Begriffs begründen, gehen davon aus, dass dem Menschen unabhängig von Herkunft und Rang eine besondere Würde zuzuerkennen ist. Diese Würde wird in ihrer modernen Variante nicht mehr mit der Gottesebenbildlichkeit begründet (Wetz 1998: 49, 65), sondern nach Immanuel Kant vernunftrechtlich konstruiert (Bielefeldt 1999: 53), unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Vernunft, Moralität und Freiheit (Wetz 1998: 42). Im Mittelpunkt steht die Bestimmung und Befähi gung des Menschen zur autonomen sittlichen Selbstgesetzgebung im Sinne des Kategorischen Imperativs: —(H)andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werdefi (Kant 1975: 51). Otfried Höffe greift in verschiedenen Schriften die Kant™sche Idee des transzendentalen Tauschs wieder auf und bringt ihn als transzendental-kontraktualistisches Argument des allseitigen Taus chs von Freiheitsverzichten in die Diskussion ein (Höffe 2001: 70-72, 1999: 63-64, 1998, 1996, 1992). Höffe geht mit Ka nt anthropologisch von —transzendentalen Interessenfi aus. Sie bilden die Grundlage für jene den Menschenrechten entsprechenden Pflichten, die zunächst begründet sein müssten: —Wer Rechte legitimieren will, muß die entsprechenden Pflichten rech tfertigen; vom bloßen Begriff her sind Men- schenrechte an korrelative Menschenpflichten gebundenfi (Höffe 1992: 15). Menschen-rechte und Menschenpflichten würden von den Individuen wechselse itig im Sinne eines 2 Die Literatur bietet weitere Begründungsstrategien an, die allerdings nach eingehender Prüfung weniger überzeugten als der transzendentale Tausch. Auf eine ausführliche Darstellung wird hier deshalb ver- zichtet. Vgl. stattdessen Grimm 2004, Alexy 2004, Bielefeldt 1999, Freeman 1994, Pennock 1981.
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5 distributiven Vorteils in Anspruch genommen und gewährt, was Höffe unter der Idee der Tauschgerechtigkeit zusammenfasst (Höffe 1999: 54). Wenn die Interessen, die hinter den Ansprüchen und Leistungen stünden, unaufgebbar seien, übertrage sich diese Wechsel- seitigkeit in der sozialen Gemeinschaft au ch auf die Wechselseiti gkeit von Rechten; der Tausch werde unverzichtbar. Damit ließen sich , so Höffe weiter, nicht nur die Menschen-rechte im Allgemeinen, sondern auch alle dr ei Kategorien der Menschenrechte begründen: die negativen Freiheitsrechte im Tausch gege n Verzichte, die positiven Freiheitsrechte im Tausch von Leistungen und die demokratischen Mitwirkungsrechte in der Wechselseitig- keit der politischen Autorisierung (Höffe 1999, 64). 32.3 Begründung der politischen Teilhabe als Menschenrecht Inspiriert von den Kant™schen Überlegungen betrachte ich den Kern der Menschenwürde als die Fähigkeit des Menschen, seine Vernunft zu gebrauchen und sich damit unabhängig vom Willen anderer frei zu entwickeln. Vern unftbegabte Menschen müssen also in die Lage versetzt werden, über ihren Lebensplan entscheiden zu können. Zwar steht in der neuzeitlichen Philosophie das Individuum im Mittelpunkt, aber Anhänger der republikani- schen Tradition haben immer wieder darauf verwiesen, dass sich Freiheit nur innerhalb einer Gemeinschaft realisieren lassen kann, im Zusammenleben des Menschen mit seines- gleichen. Zur eigenen Freiheit ist folglich die gleiche Freiheit der anderen in einem politi- schen Gemeinwesen mitzudenken (vgl. König 1994: 240; Schild 1981: 159). In diesem Sinne hat der vernünftige Mensch ein Recht, —sich als selbstverantwortliches Subjekt am öffentlichen, sozialen und politischen Geschehen zu beteiligenfi (Schild 1981: 151), um seine eigene Autonomie/Freiheit genau dort zu verwirklichen, wo auch alle anderen Indi- viduen ihre Autonomie/Freiheit verwirklichen. Aufgefasst werden kann dies als —Teil-habefi, —Teilnahmefi, —Mitbestimmungfi, —S elbstverantwortungfi oder —Partizipationfi. Jedes Individuum verfügt in diesem Sinn über ein transzendentales Interesse an gemein- schaftlicher, damit politischer Verständigung, da s es jedem anderen zuerkennt, um selbst ein solches von allen zuerkannt zu bekommen. Politische Teilhabe aller Menschen als Menschenrecht ergibt sich dann aus der wechselseitigen Zuerkennung des transzendentalen Interesses an gemeinschaftlicher Verständigung, das in seiner menschenrechtlichen Um- setzung universelle politische Teilhabe, in seiner bürgerrechtlichen Umsetzung Partizipa-tion im konkreten Gemeinwesen heißt. 3 Zur Analyse der Stärken und Schwächen des tr anszendentalen Tauschs vgl . Hinkmann 2000, Kettner 1997, Gosepath/Merle 2002.
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6 Zwei zentrale Fragen stellen sich hier: Warum hat das Individuum Interesse daran, seinen persönlichen Lebensplan nicht nur privat, sondern auch öffentlich, in einer politi-schen Gemeinschaft zu verfol gen? Und warum ergibt sich aus dem eigenen Interesse an politischer Teilhabe das Interesse, auch andere mit dem Recht auf politische Teilhabe aus- zustatten? Die erste Frage wird in Kapitel 2.3.1, die zweite in Kapitel 2.3.2 beantwortet. 2.3.1 Das Interesse am öffentlichen Verfolgen des eigenen Lebensplans Zur Beantwortung der ersten Frage möchte ich drei idealtypische Modelle heranziehen, die Auskunft darüber geben, welche Rolle das Individuum in der sozi alen und politischen Gemeinschaft einnimmt: (a) das Kooperations modell nach Aristoteles, (b) das Konflikt-modell der Vertragstheoretiker und (c) das Fairnessmodell nach John Rawls (Dreiteilung nach Höffe 2001: 62-65). Das Kooperationsmodell nach Aristoteles (a) beschreibt die menschliche Gemeinschaft als Kooperation und den Menschen als kooperationsbereites, gemeinschaftsorientiertes Wesen. Laut der politischen Philosophie des Altertums, vor allem nach Aristoteles, ist der Mensch ein zoon politicon. Er lebe als Bürger unter seinesgleichen in der Gemeinschaft und könne sich nur in der Gemeinschaft entwickeln, das heißt nur in der Gemeinschaft des Miteinanderredens und -handelns ließen sich Vernünftigkeit, Sprach- und Handlungsfähig-keit entfalten. Deshalb sei der Mensch von Natu r aus auf eine gemeinschaftliche, politische Lebensweise ausgerichtet (vgl. Kersting 1996: 9-14). Menschenrechte im heutigen Sinn kennt der antike Philosoph nicht; wichtig ist ihm allein, dass der Mensch seiner Natur- bestimmung nach nur in der politischen Ge meinschaft ein angemessenes Leben führen könne und dass er die Gemeinschaft notwendigerweise zur persönlichen Entfaltung brauche. Selbstverständlich könne er, sofern er zu den volljährigen, männlichen Vollbür- gern gehört, an allen politischen Entschei dungen teilhaben bzw. politische Ämter besetzen. Anhänger des Kooperationsmodells würden die erste Frage folglich so beantworten: Der Mensch kann sich nur in der politischen Gemeinschaft verwirklichen und käme gar nicht auf die Idee, etwas anderes zu wollen. Gemeinschaft und die Beteiligung daran gehören ganz notwendig zum menschlichen Leben dazu. Von Thomas Hobbes, dem Begründer der Vert ragstheorie, und seinen Nachfolgern (b) wird dieses Modell grundlegend in Frage gestellt. Hobbes le itet einen Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie ein, indem er eine Gesellschaftskonzeption nach aristoteli-schem Vorbild ablehnt und sein e Begründung stattdessen auf das neuzeitliche, d. h. ratio- nale, vernunftbegabte, kalkulierende und nutzenmaximierende Individuum ausrichtet. —Hobbes politische Philosophie ist der Geburtsort des modernen, atomistischen, von allem
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7 freien und absolut souveränen Individuums () fi (Kersting 1996: 16), das im Kontrast zum Gemeinschaftsmenschen aristotelischer Prägung steht. Im Sinne der Vertragstheoretiker Hobbes und Locke leben Menschen in einer Gemeinschaft aus der rationalen Einsicht heraus, dass sie unter der Garantie des Rechts ihr Leben gegenüber anderen rationalen, nutzenkalkulierenden Menschen unter dem bekannten Umstand der Ressourcenknappheit erhalten und insgesamt aufgrund eines gewissen gesicherten Maßes an gemeinschaftlicher Kooperation ihre Interessen besser befriedigen können. Sie legitimieren die Herrschaft des Souveräns über den zweifachen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag und institutionalisie-ren einen begünstigten Dritten, den Leviathan. Die so gegründete politische Gemeinschaft versteht sich als vertraglicher Zusammensch luss aller Individuen, die konsensual im Ver- trag die institutionelle Ausformung ihrer Gemeinschaft regeln (vgl. Hoerster 2001; Kersting 1994; Kersting 1990). Damit wäre ein Interesse auf einmalige Beteiligung beim Vertragsschluss begründet, nicht aber die dauerhafte Beteiligung in alltäglichen Entschei-dungsprozessen. Vertragstheorien sind wie schon gesagt Konsen stheorien —in einer strikten Formfi (Höffe 2001: 63), wobei der vollständige Konsens in erster Linie beim Vertragsabschluss notwen- dig ist. Eine politische Bete iligung, die über den einmaligen konsensualen Akt der Ver- tragszustimmung hinausreicht, scheint nicht nötig, da die für das Individuum geltenden Rechtsprinzipien ab dem Zeitpunkt des Ve rtragsschlusses geschützt sind. Nach Böckenförde würde also mit den Vertragstheo retikern ein legitimer Rechtsstaat für den Schutz der Menschenrechte völlig genügen (Böckenförde 1998). Ein Interesse auf politische Teilhabe kann und muss jedoch dann entwickelt werden, wenn erstens der Konsens über den Vertragsschluss hinaus in das politische Leben hinein-getragen werden soll, um die Zustimmung zum Vertrag dauerhaft zu erhalten und zu legi- timieren. Das heißt zweitens, wenn es geboten scheint, Rechtsprinzipien fortlaufend auf legitime Weise weiterformulieren zu müssen. Oder drittens, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Entscheidungen, die in der politischen Arena getroffen werden, relevante Auswirkungen auf das Leben des Individuums und seine Fähigkeit haben, einen eigenen Lebensplan rational zu verfolgen und zu verwirklichen. Aus den genannten drei Gründen wäre es für das Individuum rational und klug, ein Interesse an politischer Beteiligung am Gemeinwesen zu entwickeln und ein solches Recht auf politische Teilhabe einzufordern. Dieses Interesse ergibt sich allerdings nich t zwingend direkt aus dem Vertragsschluss im Hobbes™schen und Locke™schen Sinn. Die Notwendigkeit dauerhafter Beteiligung wird prominent von Jean-Jacques Rousseau im —Gesellschaftsvertragfi (1977) vertreten. Rousseau versteht nicht nur die Ausgangssitu- ation, die dem Vertragsschluss vorangeht, anders als seine Vorgänger Hobbes und Locke, indem er das grundlegende Problem nicht in der Frage nach grundsätzlicher Herrschafts-
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